Umstrittene Tugend
Selbstkontrolle soll zum Erfolg führen, kann aber auch zur Belastung werden
Auch Jahrzehnte nach dem Marshmallow-Test beschäftigt sich die psychologische Forschung weiter mit den Vor- und Nachteilen der Selbstbeherrschung.
Schon wieder ein Stück Sahnetorte zu viel gegessen und die morgendliche Laufrunde weggelassen – gegen solcher Art süße Versuchung hat die Selbstbeherrschung einfach keine Chance. Und auf die Selbstdisziplin ist eben auch kein Verlass, wenn schon morgens dunkle Regenwolken die Lust zum Laufen gar nicht erst aufkommen lassen.
Wer mehr nach Bauchgefühl entscheidet, handelt aus Sicht von Experten mit einer »niedrigen Laienrationalität«. Dennoch muss die vermeintliche Schwäche, einer momentanen Versuchung nachzugeben, kein genereller Kontrollverlust sein, selbst wenn es sich frustrierend anfühlt. »Menschen, die sich bei Entscheidungen eher auf ihr Gefühl verlassen, empfinden sich weniger authentisch, wenn sie auf etwas verzichten«, sagt Michail Kokkoris von der Wirtschaftsuniversität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die Konsumpsychologie. Der Wissenschaftler hat gemeinsam mit Kollegen der Kölner und Züricher Hochschulen untersucht, wie sich strenge Selbstkontrolle auf das persönliche Befinden auswirkt. »Macht es glücklicher auf alles Verlockende zu verzichten und bei jeder Versuchung nein zu sagen?«, fragten die Wissenschaftler.
Unbestritten sei, dass Disziplin als wichtige Eigenschaft auf dem Weg zum Erfolg gilt. Doch Menschen, die eher aus dem Bauch heraus als rational entscheiden, empfinden hohe Selbstbeherrschung als nicht authentisch und entscheiden sich bewusst dagegen, wie eine wissenschaftliche Studie gezeigt hat, die im »Journal of Personality and Social Psychology« veröffentlicht wurde.
Einen anderen Bereich ihrer insgesamt elf Studien, an denen 3000 Versuchspersonen teilnahmen, eröffneten die Autoren mit der Frage: »Spielt der jeweilige Persönlichkeitstyp eine entscheidende Rolle in der Empfindung von Selbstkontrolle?« Während sich die Teilnehmer mit einer hohen Widerstandsfähigkeit als besonders willensstark einschätzten, haben andere im Verzicht auf Selbstbeherrschung wichtige Schritte zu ihrer Selbstfindung gesehen. »Aus unserer Studie lässt sich schließen, dass nicht jede bewusste Entscheidung gegen Selbstkontrolle, etwa der Genuss von Schokolade, dazu führt, die Selbstbeherrschung insgesamt zu verlieren«, erklärt Michail Kokkoris.
Was Selbstbeherrschung im Kindesalter bedeutet, in dem bewusste Entscheidungen noch kaum eine Rolle spielen, versuchte der Persönlichkeitspsychologe Walter Mischel ab Ende der 60er Jahre mit seinen Experimenten ab Ende der 60er Jahre an der kalifornischen Stanford-Universität zu zeigen. Dabei wurde eine Gruppe von Kindern mit einer Schüssel Marshmallows in einem Raum allein gelassen. 15 Minuten sollten die damals Vierjährigen durchhalten, bevor sie zugreifen durften. Wer sich solange beherrschen konnte, dem winkten zur Belohnung zwei der bunten Schaumzuckerstücke.
Für einen Teil der Kinder war die Verlockung zu groß. Sie fielen sofort über die Süßigkeit her. Andere hielten bis zu 14 Minuten durch. Ein Kind schaute die Marshmallows an, nahm ein Stück in die Hand, roch daran und legte es wieder weg. Zwei andere begnügten sich damit, sie zu betrachten. Der Versuchung zu widerstehen, kostete die Kinder einige Kraft. Ungeduldig rutschten die Schleckermäuler auf ihrem Stuhl hin und her, bis die Viertelstunde endlich vergangen war. Wenn die Aussicht auf eine Belohnung mit einer Verzögerung einhergeht, sprechen Wissenschaftler von einer »verzögerten Gratifikation«. Kinder, die durchgehalten und auf die Belohnung gewartet hatten, profitierten letztendlich doppelt: Neben dem zusätzlichen Marshmallow konnten sie sich als Gewinner des Tests fühlen. Die letzte Stufe des Experiments folgte nach 15 Jahren, als die Kinder zu 19- und 20-jährigen Teens und Twens herangewachsen waren. Dabei stellte sich nach Mischel heraus, dass die einst widerstandsfähigeren Vierjährigen sich im Vergleich zu ihren Altersgenossen, die sich sofort auf die Marshmallows gestürzt hatten, zu körperlich und psychisch gesünderen Erwachsenen entwickelt hatten.
Zweifellos ist es nicht leicht, seinen Impulsen zu widerstehen, besonders, wenn die Versuchung gleichsam vor der Nase steht. Derartigen Verlockungen war der Erfinder des Marshmallow-Tests als kleiner Junge nicht ausgesetzt, nachdem er mit seiner Familie vor den Nazis von Wien aus in die USA geflohen war. Die jüdische Familie konnte in den USA zunächst schlecht Fuß fassen. Selbst als der Vater ein kleines Kolonialwarengeschäft eröffnet hatte, reichten die Einkünfte kaum für die ganze Familie, und das Leben blieb prekär. Es ging vielmehr ums Überleben. Aus diesen Erfahrungen heraus widmete Mischel später als Wissenschaftler seine gesamte Laufbahn dem Thema Selbstbeherrschung und kam zu dem Schluss, dass Situationsfaktoren für das jeweilige Verhalten ausschlaggebender seien als persönliche Eigenschaften. Demzufolge seien Menschen, die selbstbeherrscht handeln, auch in der Lage, Bedürfnisse zugunsten einer Handlungsalternative zurückzustellen, die moralisch oder ökonomisch höherwertig ist.
Bei sportbegeisterten Jungen kann eine Fußballmannschaft oder ein einzelner Spieler soviel Begeisterung auslösen, dass die Selbstdisziplin zum regelmäßigen Training keinen zusätzlichen Antrieb braucht. Der kleine Fußballfan setzt sich dann einem positiven Druck aus, weil er gerne so sein möchte wie sein Idol. Besonders für heranwachsende Jungen, die in der Regel weniger selbstbeherrscht sind als gleichaltrige Mädchen, kann ein Vorbild, etwa aus dem Sport, motivierend und inspirierend sein.
Wenn Selbstbeherrschung Gefühle und Bedürfnisse allerdings immer weiter in den Hintergrund drängt, kann das kontrollierte Handeln allmählich zur Belastung werden. »Unbestritten bleibt, dass Selbstkontrolle ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft ist«, betont Organisationspsychologe Kokkoris. Was bisher allerdings völlig unberücksichtigt blieb: »Selbstkontrolle wird nicht ausschließlich als positiv empfunden«, so der Wissenschaftler.
Viele Forschungsansätze gehen zwar davon aus, dass Selbstbeherrschung generell angemessener ist als Impulsivität. Inzwischen sehen einige Verhaltenspsychologen aber auch in impulsiven Reaktionen Vorteile. Ihrer Meinung nach sollte die Konditionierung nicht soweit gehen, dass jede Impulsivität unterdrückt wird. Spontan zu reagieren, wenn es die Situation erlaubt oder erfordert, muss nicht automatisch heißen, allen Gefühlen und Affekten freien Lauf zu lassen.
Von welchen Bereichen im Gehirn die Willenskraft zur Selbstbeherrschung im Gehirn maßgeblich gesteuert wird, ist bisher noch nicht endgültig erforscht. Fest steht dagegen, dass Glucose die Energie dazu liefert. Ein Mangel führt zur Hemmung der Selbstbeherrschung, wie Simulationen besonders schwieriger Situationen gezeigt haben. Eine Tasse Kaffee oder Tee mit Zucker kann Abhilfe schaffen. »Softdrinks mit künstlichen Süßstoffen lösen den Effekt aber nicht aus«, betont Kokkoris.