Schützende Algorithmen gesucht
Risikofaktoren für einen Suizidversuch sind nicht aussagekräftig genug, um Leben zu retten
Selbsttötung gehört in der Gruppe der jüngeren Menschen zu einer der häufigsten Todesursachen. US-Forscher versuchen, in der Altersgruppe Verhaltensmuster für eine akute Gefährdung zu finden.
Anlässlich des Welttages der Suizidprävention in dieser Woche veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) neue Zahlen zu dem Thema. Demnach begehen rund 800 000 Menschen jährlich Suizid. Insgesamt sei die Suizidrate zwar rückläufig, zwischen 2010 und 2016 sei sie weltweit um 9,8 Prozent gesunken. Teilweise lasse sich der Rückgang auf die wachsende Zahl an Ländern mit Präventionsstrategien zurückführen, heißt es im WHO-Bericht. Dass es aber nur 38 Länder mit einer solchen Strategie gebe, sei »zu schwach«.
In der Bundesrepublik sterben jährlich etwa 10 000 Menschen auf diese Weise, das sind etwa dreimal so viele wie durch Verkehrsunfälle. Deutlich höher liegt noch einmal die Zahl der versuchten Suizide. »Wir schätzen, dass etwa 10 bis 40 Versuche auf einen vollendeten Suizid kommen«, sagt Heide Glaesmer. Die Psychologin und Psychotherapeutin forscht an der Universität Leipzig zu Suizid-Theorien, darunter zu den Risikofaktoren. »Suizidgedanken sind oft Symptom einer depressiven Störung, können aber auch bei anderen psychischen Störungen auftreten«, erklärt Glaesmer.
Viele der Risikofaktoren sind gut bekannt, einer der stärksten ist ein früherer Selbsttötungsversuch. Zu den psychischen Leiden, die das Risiko dafür erhöhen, zählt der Missbrauch von Drogen. In Frage kommen zudem chronische Krankheiten und der Zugang zu tödlichen Mitteln wie etwa Waffen. Das Problem dieser Risikofaktoren ist, dass sie einen großen Personenkreis betreffen, aber nur wenige Menschen akut gefährdet sind.
Weil gerade bei Jugendlichen Suizid zu den häufigsten Todesursachen gehört, haben sich US-Forscher entschieden, dieser Gruppe besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Sie starteten eine Studie mit 50 Teenagern aus New York und Pennsylvania, die schon einmal einen Suizidversuch unternommen hatten. Ihnen werden einmal wöchentlich per Smartphone recht unverblümt drei Fragen gestellt: »Wie oft hast du in der letzten Woche darüber nachgedacht, dich selbst zu töten? Hast du dafür einen Plan gemacht? Hast du versucht, dich selbst zu töten?« Außerdem haben die 13- bis 18-Jährigen – mit Zustimmung ihrer Eltern – eingewilligt, sechs Monate lang alle persönlichen Daten, die über ihr Smartphone gehen, aufzeichnen zu lassen: Textnachrichten, Posts in sozialen Medien, den Ton ihrer Stimmen bei Telefonaten und den Gesichtsausdruck ihrer Selfies, Musik und Bewegungsprofile. Mit der Studie, an der die Jugendlichen teilnehmen, sollen bekannte wissenschaftliche Zusammenhänge zum Suizid mit maschinellen Lernen kombiniert werden. Weil Patienten ihre Gedanken zur Selbsttötung nicht unbedingt mit ihren Therapeuten teilen, und diese Überlegungen auch zwischen den Sprechstunden eskalieren können, kommen die im Alltag der Jugendlichen allgegenwärtigen Smartphones ins Spiel. Am Ende sollen Algorithmen stehen, die ein Ansteigen des Suizidrisikos feststellen können.
Randy Auerbach, klinischer Psychologe an der Columbia Universität, ist an dem Vorhaben beteiligt. Er begründet das Vorgehen mit den gescheiterten Versuchen, die Suizidrate in der Altersgruppe zu senken. »Was wir traditionell versucht haben, funktioniert nicht.« 2017 nahmen sich in den USA 6700 Teenager und junge Erwachsene das Leben.