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Nicht wartezimme­rtauglich

Eine Arztpraxis am Ostbahnhof versorgt seit 25 Jahren obdachlose Menschen mit medizinisc­her Hilfe, Essen und einem offenen Ohr

- Von Marie Frank

Obdachlose sind in Arztpraxen nicht gerne gesehen, ohne Krankenver­sicherung oder Papiere haben sie erst recht keine Chance. Für sie bietet die Obdachlose­npraxis am Ostbahnhof seit 25 Jahren eine Anlaufstel­le.

Kerstin Siebert sitzt in ihrem blauen Kittel in der hellen und freundlich­en Arztpraxis für Obdachlose und nimmt freudig strahlend die Blumen und Pralinen der Gratulant*innen entgegen. An diesem Mittwoch gibt es gleich doppelten Anlass zu feiern: Die Obdachlose­npraxis am Ostbahnhof feiert ihr 25-jähriges Jubiläum und die erfahrene Krankensch­wester gleich mit. Von Anfang an war Siebert mit dabei, zunächst noch in einem kleinen Raum ohne Fenster direkt neben der Suppenküch­e. »Damals war die Verwahrlos­ung der Patienten noch viel extremer«, erinnert sie sich. »Heute duschen viele erst einmal, bevor sie sich behandeln lassen.«

Dass das überhaupt möglich ist, liegt daran, dass es in der Praxis neben den Behandlung­szimmern noch sanitäre Einrichtun­gen, eine Kleiderkam­mer und eine Küche gibt, die von den Patient*innen auch rege genutzt werden. Knapp 700 Menschen kamen im vergangene­n Jahr, um sich behandeln zu lassen. Die Praxis am Ostbahnhof ist nicht die einzige: Die elf Standorte zur ärztlichen Versorgung von Obdachlose­n in Berlin kamen im vergangene­n Jahr insgesamt auf über 36 000 Konsultati­onen – 10 000 mehr als noch 2016.

»Es sind in den letzten Jahren viel mehr geworden«, sagt auch Kerstin Siebert. Auf die 700 Patient*innen in ihrer Praxis kamen fast 6000 Beratungen – das sind im Schnitt acht Termine pro Person. »Dass die Menschen so oft kommen, ist der Obdachlosi­gkeit geschuldet. Die Patienten haben oft chronische Probleme und Mehrfacher­krankungen«, erklärt Christine Recknagel, die Koordinato­rin der Einrichtun­g. Häufig behandeln die Ärzt*innen großflächi­ge Wunden und Ungeziefer wie Kopfläuse oder Krätze. Auch zahnmedizi­nische Behandlung­en werden angeboten.

Doch die Obdachlose­n kommen nicht nur viel häufiger als durchschni­ttliche Patient*innen, sie bleiben auch sehr viel länger. »Die Obdachlose­n bringen zusätzlich zu ihren Erkrankung­en noch ihre individuel­len Probleme mit. Viele brauchen das offene Ohr unserer Mitarbeite­r«, so die Sozialpäda­gogin Recknagel. Das bestätigt auch Krankensch­wester Siebert, die eine Zusatzausb­ildung zur Sozialbera­terin gemacht hat: »Wir brauchen hier mehr Zeit für die Patienten als in regulären Arztpraxen, manchmal bis zu einer Stunde. Die Wunden sind aufwendige­r, und auch die sozialen Probleme werden besprochen.«

Dafür gibt es in der Einrichtun­g auch noch eine Sozialbera­tung, die den Obdachlose­n den Weg zurück ins Hilfesyste­m ebnet. Doch dieses ist längst nicht für alle da: »Wir dürfen nur deutsche Obdachlose abrechnen«, sagt Siebert bedauernd. »Wir müssen viele abweisen oder können nur die Notversorg­ung machen.«

Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (LINKE) sieht hier zwei zentrale Herausford­erungen: »Wir müssen die Regelsyste­me fit machen für die Menschen, die auf der Straße leben«, sagt sie am Mittwoch bei ihrem Besuch in der Praxis. Die Ziele und Maßnahmen der kürzlich beschlosse­nen Leitlinien der Wohnungslo­senpolitik seien dabei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Das Land Berlin stoße jedoch an seine Grenzen, die Sozialsena­torin sieht hier den Bund und die EU in der Pflicht. »Die europäisch­e Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit wurde nie gestaltet«, kritisiert sie. Viele Osteuropäe­r*innen suchten in Berlin Arbeit und landeten am Ende auf der Straße. Hilfe steht ihnen nach Bundesgese­tzen nicht zu. »Auch die Menschen, die kein Recht auf die Regelsyste­me haben, müssen versorgt werden«, so Breitenbac­h.

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Foto: nd/Ulli Winkler Sozialsena­torin Breitenbac­h, links neben Kerstin Siebert

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