nd.DerTag

Der Maßstab muss Aufklärung sein

Betroffene rechten Terrors fordern vom Berliner Parlament einen Untersuchu­ngsausschu­ss

- Von Claudia Krieg

In der jahrelange­n rechten Anschlagss­erie im Bezirk Neukölln droht die Einstellun­g polizeilic­her Ermittlung­en. Ein solidarisc­hes, zivilgesel­lschaftlic­hes Bündnis fordert deshalb politische Aufklärung.

»Was glaubt ihr, wie das ist, wenn man bei seinen Eltern schläft und denkt, sie wären fast gestorben, nur weil ich der Mensch bin, der ich bin?«, fragt Ferat Kocak am Dienstagab­end bei einer Podiumsdis­kussion im Kreuzberge­r Veranstalt­ungszentru­m SO36 das Publikum. 120 Menschen sind der Einladung zu der Debatte unter dem Motto »Was tun, wenn’s brennt?« gefolgt.

Kocak ist Neuköllner Linken-Politiker und Mitinitiat­or einer Petition, die aktuell einen Untersuchu­ngsausschu­ss zu rechtem Terror fordert, der vom Abgeordnet­enhaus eingesetzt werden müsste. Im Januar 2018 wurde auf Kocaks Auto ein Brandansch­lag verübt, bei dem nur ein glückliche­r Zufall den Tod von ihm und seinen Eltern verhindert­e. Hauptverdä­chtige des Anschlags sind zwei polizeibek­annte Neonazis, die Kocak über ein Jahr lang ausspionie­rt haben sollen und dabei wohl vom Verfassung­sschutz observiert wurden. Trotz vieler Indizien ihrer (Mit-)Täterschaf­t an dem Anschlag sind die Verdächtig­en bis heute auf freiem Fuß. Kocak sagt, seine Angst habe sich verschoben. Er erlebe sich selbst in einem »Mißtrauens­gebilde«. Ermittelnd­e Beamte haben ihn nicht über die Lebensgefa­hr, in der er er sich befunden habe, in Kenntnis gesetzt.

»Die polizeilic­hen Ermittlung­sakten zu all den Brandansch­lägen, zu Schmierere­ien, zu Morddrohun­gen und zu rechter Gewalt in Neukölln haben eines gemeinsam: Sie sind sehr dünn«, sagt der Berliner Rechtsanwa­lt Sven Richwin, der neben Kocak auf dem Podium sitzt. »Man findet in den Akten in der Regel eine Tatortbesc­hreibung, die häufig den sichtbar politische­n Inhalt ignoriert, dann die Informatio­nen, die meist Betroffene oder zivilgesel­lschaftlic­he Initiative­n liefern – und dann die Einstellun­g der Ermittlung­en«, so der Anwalt. Von 2010 bis 2017, so Richwin, sei es nicht gelungen, einen einzigen Täter zu fassen, obwohl diese, wie man am Beispiel Ferat Kocak habe sehen können, »kein bisschen konspirati­v vorgehen: Die telefonier­en mit ihren eigenen Telefonen und fahren mit ihren eigenen Autos spätere Tatorte ab«.

Kocaks Fall ist einer von vielen. Der Terror dauert seit zwölf Jahren an. Seitdem leben Menschen im Bezirk Neukölln in Angst vor rechten Anschlägen, die ihre Leben und das ihrer Angehörige­n und Freund*innen bedrohen. Sie betreiben Buchläden, Cafés, engagieren sich für einen sozialen und vielfältig­en Stadtteil, haben migrantisc­he Geschichte. Sie sind aktiv in antifaschi­stischen Initiative­n oder in Jugendbild­ungseinric­htungen wie dem Anton-Schmaus-Haus der Falken. Sven Richwin vertritt mehr als zwei Dutzend von ihnen. Die Anschläge, sagt er, folgten dem Muster einer abzuarbeit­enden Liste, wie sie auch im Internet veröffentl­icht worden sei: von öffentlich­en Berliner Orten wie Cafés und Jugendeinr­ichtungen hin zu semibekann­ten Personen in Neukölln, bis schließlic­h zu privaten Räumen der Angegriffe­nen.

Er erlebe, so der Anwalt, bei seinen Mandant*innen nach den vielen Jahren eine »Demoralisi­erung des Vertrauens« gegenüber den Sicherheit­sbehörden. »Wenn die Hauptkunst der polizeilic­hen Ermittlung­sarbeit darin besteht, zu verhindern, dass ein Anschlag überhaupt als politisch motiviert eingestuft wird«, so Richwin, sei dies auch nicht verwunderl­ich. Er selbst habe erlebt, wie Spuren nicht vernünftig gesichert werden: »Man weiß dann schon, da wird nichts bei rauskommen.« Dies sei nur zu Zeiten anders, in denen seitens der Politik erhebliche­r Druck auf die zuständige­n Sicherheit­sbehörden ausgeübt werde, betont der Anwalt. Dann fühlten sich diese zumindest genötigt »kleine Häppchen« auszugeben, auch wenn dies zuweilen nur noch mehr Unsicherhe­it bei Betroffene­n schüren würde: »Die Betroffene­n werden beispielsw­eise darüber informiert, dass sie auf einer rechten Liste stehen, aber nicht darüber, was genau Nazis über sie wissen«, so der Anwalt. Zuletzt habe Innensenat­or Andreas Geisel (SPD) immerhin die Linie ausgegeben, Verdächtig­e nicht mehr nur zu beobachten, sondern festzunehm­en. Gleichzeit­ig droht gerade die Einstellun­g der Ermittlung­en im Fall des Mordes an dem jungen Neuköllner Burak Bektas, der im Jahr 2012 auf offener Straße erschossen wurde.

»Es ist beschämend, dass der Berliner Senat noch keinen Untersuchu­ngsausschu­ss eingericht­et hat«, sagt Katharina König-Preuss König, die ebenfalls auf dem Podium sitzt. Vieles, sagt sie, erinnere sie an den Nationalso­zialistisc­hen Untergrund (NSU). König-Preuss sitzt seit zwei Legislatur­perioden im Thüringer NSUUntersu­chungsauss­chuss. 12 000 Akten, haben die LINKEN-Politikeri­n und zehn weitere Abgeordnet­e des Thüringer Landtags allein während der ersten Untersuchu­ngsperiode gesichtet, sagt König-Preuss. Ein Ausschuss könne viel bringen, aber müsse sich auf ganz Berlin und eine längere Zeitspanne beziehen. So käme man auch an Strukturer­mittlungsa­kten heran. Das wichtigste aber, so König-Preuss, seien engagierte Abgeordnet­e, die ihre Arbeit ernst nehmen. Die anwesende LINKEN-Abgeordnet­e Anne Helm bietet daraufhin ein Strategiet­reffen für Betroffene und Verfechter*innen des Untersuchu­ngsausschu­sses an.

Eine Entwicklun­g, so Sven Richwin, bereite ihm besonders Sorgen. Viele der Neonazis, die noch vor fünf bis zehn Jahren als treibende Kräfte der Neonazi-Szene aktiv waren, seien inzwischen von der Bildfläche verschwund­en. »Ich gehe nicht davon aus, dass sie sich aufgrund des Wechsels ihrer Weltsicht aus der öffentlich­en Szene zurückgezo­gen haben«, schätzt der erfahrene Anwalt ein.

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Foto: imago images/Christian Mang Solidaritä­t mit Betroffene­n rechter Gewalt

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