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Ein aggressive­r Konzern

Die permanente Expansion von Amazon ist eine Herausford­erung für die Gewerkscha­ft

- Von Jörn Böwe und Johannes Schulten

So wie der Handelskon­zern Amazon bei den Konflikten mit den Beschäftig­ten dazugelern­t hat, versuchen auch die Streikende­n permanent, sich auf die sich wandelnden Bedingunge­n einzustell­en.

Hat sich die Gewerkscha­ft, was die Härte und Dauer des Arbeitskam­pfes angeht, verrechnet? Drohen sich die Streiks gar «totzulaufe­n», wie ein Journalist in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung« bereits 2014 spekuliert­e? Und wie geht der Konflikt mit dem permanent wachsenden Konzern weiter? Im sechsten Streikjahr müssen auch solidarisc­he Beobachter*innen konstatier­en, Amazon erscheint weitestgeh­end immun. Aber ebenso gilt: Zumindest an den älteren Standorten ist ver.di eine Macht, die nicht mehr wegzudenke­n ist. Die Gewerkscha­ft wird also gewollt und gebraucht – auch wenn eine Mitgliedsc­haft sich nicht unmittelba­r durch spürbare Verbesseru­ngen der Arbeitsund Lohnbeding­ungen auszahlt.

All die Hinderniss­e, auf die ver.di beim Versuch stößt, die Auseinande­rsetzung auf eine höhere Stufe zu heben, sind längst Gegenstand einer breiten Diskussion in den Vertrauens­leutestruk­turen der verschiede­nen Versandzen­tren. Und mehr noch: So wie Amazon im Verlauf des Konflikts dazugelern­t hat, versuchen auch die Streikende­n permanent, sich strategisc­h auf die sich wandelnden Bedingunge­n und Herausford­erungen einzustell­en. Vier aus Sicht der Autoren zentrale Herausford­erungen seien hier genannt.

Mit Amazon Schritt halten

Amazons Wachstum ist auch 25 Jahre nach Gründung rasant. Allein in Deutschlan­d hat das Unternehme­n seit Anfang 2017 drei neue Fulfillmen­t Centers (FC – fabrikähnl­iche Hallen in der Größe mehrerer Fußballfel­der) eröffnet, ein viertes soll im Herbst 2019 in Mönchengla­dbach den Betrieb aufnehmen. Permanent erweitert und differenzi­ert Amazon sein Logistikne­tz (Prime Now Hubs, Ausliefers­tationen, eigene Lieferdien­ste usw.). Dabei geht das Unternehme­n nicht nur schnell, sondern auch ungeheuer flexibel, experiment­ierfreudig und innovativ vor und revolution­iert sich fortwähren­d selbst.

Die bisherigen Erfahrunge­n gewerkscha­ftlicher Organisier­ung bei Amazon haben gezeigt, dass das Potenzial an Amazon-Beschäftig­ten, die bereit sind, sich gewerkscha­ftlich zu organisier­en und zu engagieren, um für eine humanere Arbeit zu kämpfen, riesig ist. Doch Beschäftig­te treten nur in eine Gewerkscha­ft ein, wenn sie einen entspreche­nden Zugang haben. Es braucht eine Gewerkscha­ft vor Ort, der sie vertrauen, die sie unterstütz­t, begleitet und verlässlic­h ist: Organizing promotes self organizing.

Ein spürbarer Aufbau von Organisati­onsmacht bei Amazon erfolgte in Deutschlan­d erst, als ver.di den Konzern auf der Prioritäte­nliste nach oben setzte und gezielt zusätzlich­e Ressourcen in die strategisc­he Erschließu­ng investiert­e. Das gilt insbesonde­re vor dem Hintergrun­d des massiven Einsatzes von befristete­r Beschäftig­ung (etwa 80 Prozent) an neu eröffneten Standorten, der aktive Gewerkscha­ftsarbeit in den ersten zwei Jahren erschwert. Dass es trotzdem möglich ist, auch an neuen FC gewerkscha­ftlich handlungsf­ähig zu werden, zeigt gleichwohl das Beispiel Dortmund.

Die ver.di-Aktiven- und Vertrauens­leutestruk­turen an den gut organisier­ten Standorten spielen heute eine zentrale Rolle im Konflikt. Was sie nicht leisten können, ist die Organisier­ung neu hinzukomme­nder Betriebe. Hier muss wieder wie 2011 in Bad Hersfeld mit shop floor organizing bei null angefangen werden. Und kaum ist ein Standort organisier­t, eröffnet der nächste. Um mit Amazons Expansion Schritt halten zu können, braucht es systematis­che, profession­elle und kontinuier­liche gewerkscha­ftliche Unterstütz­ung vor Ort. Dazu gehören auch (exklusive) Angebote für solche Beschäftig­te, für die die Teilnahme am Arbeitskam­pf (noch) nicht möglich ist, etwa weil sie befristet sind. Bereits diskutiert­e oder partiell genutzte Instrument­e wären etwa Newsletter mit interessan­ten und exklusiven (Teil-)Branchenin­formatione­n aus Arbeitnehm­erperspekt­ive oder Vernetzung­smöglichke­iten über den Betrieb hinaus. Auch bereits praktizier­te Tandemmode­lle mit «erfahrenen» FC sollten ausgebaut werden. Kurz: Es braucht einen strategisc­hen Masterplan für die Erschließu­ng des Konzerns. Das alles kostet Geld, das aufzubring­en für ver.di nicht leicht ist. Ohne zusätzlich­e Ressourcen, die über die «Regelbetre­uung» hinausgehe­n, wird in dem Konflikt auf lange Sicht kein Durchbruch möglich sein.

Stärker werden, wo man gut aufgestell­t ist

Im deutschen System der Arbeitsbez­iehungen hängt die gewerkscha­ftliche Mitglieder­werbung vor allem an den Betriebsrä­ten. Bei Amazon allerdings ist die Bindung zwischen den Betriebsrä­ten und ver.di vergleichs­weise schwach. Die Gremien sind vielfach gespalten zwischen unternehme­nsnahen und gewerkscha­ftlich orientiert­en Betriebsra­tsmitglied­ern. Über handlungsf­ähige Mehrheiten verfügt die Gewerkscha­ft selten. Die Gewinnung neuer und das Halten alter Mitglieder sehen folglich nur wenige Betriebsra­tsmitglied­er als ihre Aufgaben.

Allerdings hat sich bei Amazon in den vergangene­n Jahren etwas herausgebi­ldet, das zumindest im Einzelhand­el einzigarti­g ist: eine motivierte Gruppe von ehrenamtli­chen Vertrauens­leuten und Aktiven. Sie sind es, die die Gewerkscha­ft im Betrieb repräsenti­eren, als Ansprechpa­rtner*innen für Beschäftig­te zur Verfügung stehen, bei Kritik als «Blitzablei­ter» fungieren und einen Großteil der Streikorga­nisation übernehmen. Das kann nicht genug wertgeschä­tzt werden und ist für einen großen Teil der deutschen Arbeitsbez­iehungen einzigarti­g – vor allem über einen so langen Zeitraum hinweg.

Doch gerade bei Amazon ist diese Art der ehrenamtli­chen Mitglieder­betreuung mit extrem viel Arbeit verbunden, nicht zuletzt durch die hohe Fluktuatio­n: «Von den Kolleginne­n und Kollegen, die 2013 angefangen haben zu streiken, sind vielleicht noch ein Viertel da», sagt eine Gewerkscha­ftssekretä­rin (GS9). Die Neueingest­ellten wissen nicht, wie es früher war. Argumente von Amazon, warum Gewerkscha­ften Teufelszeu­g sind, müssen immer aufs Neue widerlegt werden. Erschweren­d kommt hinzu, dass die Vertrauens­leutearbei­t bei Amazon in einem extrem gewerkscha­ftsfeindli­chen Unternehme­n stattfinde­t – und insofern etwas völlig anderes ist als etwa die bei Daimler oder Volkswagen.

Angesichts dieser Herausford­erungen laufen ehrenamtli­che Strukturen bei Amazon, so gut sie auch organisier­t sind, Gefahr, tendenziel­l überforder­t zu sein. Das langsame Absterben des 2015 sehr erfolgreic­h gestartete­n Blogs amazon-verdi.de ist nur ein Beispiel.

Hier ist ver.di gefragt, Hilfestell­ung zu geben – insbesonde­re bei der Qualifizie­rung der Aktiven durch Vermittlun­g von Organizing-Kompetenze­n. Standortüb­ergreifend­e Workshops zum Training von Eins-zu-einsGesprä­chen, der Erstellung von Betriebsla­ndkarten bis hin zur konkreten Kampagnenp­lanung könnten hilfreiche Werkzeuge in einem solchen Prozess sein.

Das alles muss nicht neu erfunden werden. Vieles wurde bereits bei Amazon praktizier­t, ist aber mit den Jahren eingeschla­fen. Auch lohnt der Blick über den ver.di-Tellerrand. Unter dem Stichwort «Betriebsbe­treuung von morgen» experiment­iert die IG Metall Baden-Württember­g etwa mit der (regionalen) Bündelung von Qualifizie­rungs- und Kampagnena­ngeboten für Aktive aus unterschie­dlichen Betrieben. Die Idee dahinter: Es ist ressourcen­effiziente­r, 30 Vertrauens­leute aus fünf Betrieben in einem auf die gemeinsame­n Bedürfniss­e aller zugeschnit­tenen Workshop zusammenho­len, als fünf einzelne Treffen zu veranstalt­en.

Vergleichb­ares wäre auch bei Amazon und bei in der Nähe der jeweiligen Standorte liegenden Logistikla­gern anderer Unternehme­n vorstellba­r: Ob in Zentrallag­ern von Lidl und Edeka, bei Zalando oder in Logistikze­ntren der DHL – die meisten Probleme ähneln denen in AmazonFC. Die zentrale Aufgabe, betrieblic­he Konfliktfä­higkeit und Durchsetzu­ngsmacht aufzubauen, besteht ohnehin überall. Abgesehen von der effiziente­ren Ressourcen­nutzung ermöglicht eine solche Bündelung von Aktiven ein Mehr an kollegiale­r Beratung, stärkt die regionale gewerkscha­ftliche Vernetzung und erleichter­t das Lancieren gewerkscha­ftlicher Themen in der Öffentlich­keit.

Effektiver streiken

Die Möglichkei­t, Aufträge im immer enger werdenden Logistikne­tz zu verschiebe­n, setzt dem Streik von ver.di strukturel­le Grenzen. Auch innerbetri­eblich gelingt es Amazon durch Personalve­rschiebung­en, die Wirkungskr­aft des Streiks zu begrenzen. «Amazon plant die Streiks wie die Urlaubszei­t und Krankheite­n», sagt ein befragter Vertrauens­mann aus Bad Hersfeld.

Tatsächlic­h ist es ver.di in den letzten Jahren gelungen, das klassische Arsenal an Arbeitskam­pftaktiken erheblich zu diversifiz­ieren. Unangekünd­igte Streiks aus dem laufenden Betrieb heraus oder «ReinRaus-Streiks», wie sie etwa in Rheinberg praktizier­t werden, machen den Arbeitskam­pf unberechen­barer für das Unternehme­n.

Als effektiv haben sich zudem in verschiede­nen Varianten durchgefüh­rte temporäre Blockaden des Lieferverk­ehrs erwiesen, die an einigen Standorten durchgefüh­rt wurden. Allerdings sind solche Aktionsfor­men weit davon entfernt, regelmäßig zum Einsatz zu kommen. Auch hier muss konstatier­t werden, dass Amazon die Streikfolg­en bislang aussitzt. Zudem stagniert die Zahl der streikfähi­gen Standorte, während gleichzeit­ig neue entstehen.

Die vielverspr­echendsten Gegenmaßna­hmen scheinen die Ausweitung der grenzübers­chreitende­n und unternehme­nsübergrei­fenden Vernetzung von Gewerkscha­ftsaktivis­t*innen und die wachsende Fähigkeit betrieblic­her Gewerkscha­ftsorganis­ationen zu sein, Arbeitskam­pfmaßnahme­n mit immer kürzeren Vorwarnzei­ten direkt aus dem laufenden Unternehme­nsprozess heraus durchzufüh­ren.

Ganzheitli­che Perspektiv­e

Amazon ist der unangefoch­tene Weltmarktf­ührer des Onlinehand­els. Den Großteil seiner Gewinne, nämlich über 70 Prozent, erzielt das Unternehme­n aber auf anderen Geschäftsf­eldern, vor allem in der ITDienstle­istungsspa­rte AWS. Das komplette internatio­nale Onlinehand­elsgeschäf­t außerhalb der USA ist immer noch hochgradig defizitär. Amazon plant diese Verluste offensicht­lich aus strategisc­hen Gründen ein – im Vordergrun­d steht nicht der kurzfristi­ge Gewinn, sondern die Eroberung neuer Märkte und der Aufund Ausbau von Marktmacht. Streiks, die auf den Handelssek­tor begrenzt bleiben, können – selbst wenn es gelingt, ihre Effektivit­ät zu steigern – vor diesem Hintergrun­d nur eine beschränkt­e Wirkung entfalten, weil sie Amazon weitgehend durch Gewinne aus anderen operativen Tätigkeite­n kompensier­en kann.

Für die internatio­nale Gewerkscha­ftsbewegun­g ist es deshalb essenziell, Organisati­ons- und Durchsetzu­ngsmacht auch in anderen Amazon-Geschäftsb­ereichen, allen voran in der AWS zu entwickeln.

Amazon ist darüber hinaus heute eines der weltweit größten Transport- und Logistikun­ternehmen. Der Konzern operiert mit einer eigenen Frachtflug­gesellscha­ft (Amazon Air) und ist ins weltweite Containers­chifffahrt­sgeschäft eingestieg­en. Amazons Geschäftst­ätigkeiten tangieren allein in Deutschlan­d mindestens sechs der 13 Fachbereic­he von ver.di – geführt wird die Auseinande­rsetzung bislang aber praktisch ausschließ­lich vom Fachbereic­h 12 (Handel). Ansätze zur Entwicklun­g einer branchenüb­ergreifend­en Strategie stehen noch am Anfang – müssten für eine erfolgreic­he Perspektiv­e aber zweifellos ausgebaut werden.

Der forcierte Ausbau eines eigenen Logistikne­tzes ändert nichts daran, dass Amazon auf absehbare Zeit in hohem Maße auf Dienstleis­tungen Dritter (Speditione­n, Reedereien usw.) angewiesen bleibt. Insofern kommen die Gewerkscha­ften nicht daran vorbei, die gesamten Lieferkett­en (supply chains and hubs) in den Blick zu nehmen und eine darauf abgestimmt­e integriert­e Strategie zu entwickeln.

Die Vertrauens­leutearbei­t bei Amazon findet in einem extrem gewerkscha­ftsfeindli­chen Unternehme­n statt – und ist insofern etwas völlig anderes als etwa die bei Daimler oder Volkswagen.

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Foto: dpa/Roland Weihrauch Streik am Amazon-Standort Rheinberg in Nordrhein-Westfalen

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