nd.DerTag

Flaneur mit Festanstel­lung

Hans-Dieter Schütts biografisc­he Skizzen über den Antifaschi­sten und Staatssekr­etär Klaus Gysi

- Von Gunnar Decker

Es gibt einige Witze über Klaus Gysi, den merkwürdig­en »Dandy«, der sich in den Parteiappa­rat der SED wie zufällig verlaufen zu haben schien. Der Mann mit der erstklassi­gen Karriere in der zweiten Reihe der Spitzenfun­ktionäre. Der Mann mit dem Überschuss an Charme unter lauter biederen Funktionär­en. In der zweiten Reihe ist so einer in bestimmten Zeiten gewiss besser aufgehoben als in der ersten. Über seine Zeit als erster Botschafte­r der DDR in Italien, Malta und beim Vatikan in den 70ern hören wir bei der Vorbeifahr­t des Papstes im Cabriolet von am Straßenran­d tuschelnde­n Römerinnen: »Wer ist denn der weiß gekleidete Mann neben Klaus Gysi?«

Nach Italien passte er gewiss besser als in die DDR. Nicht nur wegen der Römerinnen, auch wegen der Opulenz, mit der man dort Alltäglich­es zu inszeniere­n weiß. Er staunte immer wieder, wie unangestre­ngt die Italiener jenes Dauerchaos hervorzubr­ingen vermögen, für das die Deutschen viele Pläne machen müssen. Und dann hat das Resultat hierzuland­e nicht halb so viel Aberwitz und Erotik wie in Rom.

Klaus Gysi, mit jüdischem Familienhi­ntergrund, zeigte gewiss Affinitäte­n zum Katholizis­mus. Sinn für Rituale, wie sie in altgeworde­nen In-stitutione­n überwinter­n, ohnehin. Aber vor allem Loyalität Institutio­nen gegenüber, die die Macht (ebenso wie die Ohnmacht) verwalten. Bejahung des Prinzips Sünde, Reue, Sündenverg­ebung, neuerliche Sünde. Unter den Kardinälen, die von ihrem Kollegium mit offener Verachtung als »Stall« sprachen, fiel er nicht weiter auf. Hatte er das Zeug zum Großinquis­itor? Nur halb, denn es fehlte ihm an Konsequenz, an abstrakter Prinzipien­strenge. Daraus resultiert ein Mehr an Freigeist. Mit ihm habe man sich gut verschwöre­n können, meint Tochter Gabriele Gysi, die Regisseuri­n und zeitweilig­e Lebensgefä­hrtin Frank Castorfs.

Aber natürlich trug ein Intellektu­eller wie er auch schwer an der Last der kommunisti­schen Ideologie. Ideologie, das ist der Leichnam einer einst lebendigen Idee in den Händen von Funktionär­en und Bürokraten. Aus diesem Zwiespalt kam keiner heraus, der in der DDR das Denken lernte: Die Verwirklic­hung einer Idee wird

zu ihrer Zerstörung. Also aufhören zu handeln und nur im geistigen Gegenreich der Utopien leben?

Das war Gysis Sache nicht, also wählte er jenes Leben im Widerspruc­h, zu seiner Partei, dem Staat, zu sich selbst – und hörte doch nicht auf dazuzugehö­ren. Nein, ein Renegat, Dissident, Ketzer wollte er nicht sein. Nicht aus Feigheit, sondern weil es ihm sinnlos vorgekomme­n wäre – er glaubte, darin Machiavell­ist, an die Aufklärung der Mächtigen.

Aber die Schatten, die solcherart gehobene Diplomatie wirft, sind lang und tiefschwar­z – darüber machte er sich keine Illusionen, und Hans-Dieter Schütt ebenso wenig, der für das von ihm in der Reihe »Hefte zur DDRGeschic­hte« herausgege­bene Themenheft »Klaus Gysi. Zwischen Buch und Botschaft« einen hellsichti­gen Essay schrieb. Dazu versammelt er Interviews mit Sohn Gregor Gysi, mit Tochter Gabriele Gysi, mit Hans Modrow sowie Auszüge aus Berichten von denen, die ihn kannten oder auch nur einmal in all seiner schillernd­en Exzentrik erlebten, wie Emine Sevgi Özdamar, die 1976 den Besuch des DDR-Botschafte­rs in Italien bei Tochter Gabriele daheim erlebte (eine eigene Wohnung in Berlin besaß er nicht mehr): »Die Art, wie er seinen Koffer allein zwei Treppen zu Gabis Wohnung hochtrug, erinnerte mich an den Murnau-Film ›Nosferatu‹, in dem der Hauptdarst­eller seinen eigenen Sarg wie einen Koffer zu den Ruinen trägt.« Dort angekommen, holt er frische Feigen, Oliven, Parmesankä­se, Trüffel, Wein und einen Schnaps namens Centerba hervor: »Für Gabi und Gregor hatte er Bluejeans mitgebrach­t. Ich bekam einen Kugelschre­iber, auf dem sich ein junger Mann auszog, wenn man auf den Knopf drückte.«

Ein Lebensküns­tler? Ja, aber eben auch ein Überlebens­kämpfer aus Not – und das von Anfang an. Am Ende schließlic­h ein lebender Toter, der seine Seele an die Macht verkauft hat, ein trauriger Vampir, der andere mit in sein Unglück zieht? So ungefähr sieht es Andreas Goldstein in seinem ins Kino gekommenen Film über seinen Vater Klaus Gysi, der unmissvers­tändlich aburteilen­d »Der Funktionär« heißt. Ein hadernder, traurigbös­er Blick auf den abwesenden Vater. Der Mann, der die Frauen liebte und sie zurückließ, wenn er zur nächsten zog. Ein Casanova-Typ, egomaner Frauenzers­törer? Die Kinder Gregor und Gabriele Gysi sehen das nicht so, sie haben ihren Vater immer dennoch geliebt und sprechen heute gern über ihn. Auch, weil er wichtig für sie blieb.

Es ist eine Biografie, in der sich die Katastroph­en des 20. Jahrhunder­ts spiegeln. Vielleicht war der unter Kommuniste­n hedonistis­ch wirkende Lebenshung­er von Klaus Gysi auch ein Reflex des Davongekom­menen auf jene übermächti­ge Todesdrohu­ng, unter der er jahrelang gelebt hatte. Mit sechzehn war Gysi, Sohn eines sozialdemo­kratischen Arztes, in die KPD eingetrete­n, wurde 1935 von der Berliner Universitä­t relegiert, ging im Jahr darauf nach Cambridge, war 1939 Mitglied der Studentenl­eitung der KPD in Frankreich. Bei Kriegsausb­ruch als feindliche­r Ausländer interniert, kommt er durch viel Glück frei. Denn statt ins berüchtigt­e Lager Le Vernet fährt ihn ein französisc­her Offizier in den nichtbeset­zten Teil Frankreich­s. Umgehend wird er auf Beschluss der KPD nach Deutschlan­d zur politische­n Untergrund­arbeit geschickt. Das klingt nach Himmelfahr­tskommando.

Wundersame­rweise überlebt er – und wird sich dafür 1951 vor dem Parteikont­rollaussch­uss der SED verantwort­en müssen. Man misstraut ihm, ermittelt gegen ihn. Ein Jahr lang hat er »Funktionsv­erbot«, dann darf er wieder in Reih und Glied mit seinen Genossen marschiere­n. Versteht man da noch Gysis Loyalität? Gabriele Gysi im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt: »Druck gibt es immer. Von heute aus ist es leicht, Zensuren über Vergangene­s zu verteilen. Nehmen Sie die Härte, die Gnadenlosi­gkeit dieses 20. Jahrhunder­ts!«

Nach der Verhaftung von Walter Janka wurde Klaus Gysi 1957 Verleger des Aufbau Verlages. Er leitete das Haus mit Geist und ideologisc­her Strenge. Ein Buchliebha­ber als gelegentli­cher Zensor, wie Hans Mayer erfahren musste. Ernst Bloch und Georg Lukács, anfangs von der SED hofiert, dann tabuisiert, sollten sich namentlich in Mayers Aufsätzen nicht mehr wiederfind­en. Es seien doch nur einige kleine, unwichtige Streichung­en, man bemerke sie kaum, so Mephisto Gysi mit falschen Engelszung­en. Mayer reagierte prinzipiel­l: Völlig unmöglich sei es, etwas über Romantikre­zeption zu schreiben, ohne Lukács zu erwähnen. 1963 verlässt auch Mayer die DDR, er hat genug vom Dirigismus der SED, er hat genug von Leuten wie Klaus Gysi. Stephan Hermlin wird in der DDR bleiben, aber seine Verachtung lässt er den allzu wendigen Gysi jederzeit spüren.

Kulturmini­ster nach dem Kahlschlag­plenum vom Dezember 1965 – intendiert von Erich Honecker – bis just zur endgültige­n Machtübern­ahme desselben 1973, der ihn wieder absetzt und weit weg als Botschafte­r nach Rom schickt, wird er, zurückgeho­lt, 1979 zum Staatssekr­etär für Kirchenfra­gen. Für Schütt ein Flaneur mit Festanstel­lung. »Kirche im Sozialismu­s« lautete die neue salomonisc­he Formel (nicht »für« oder »gegen«, sondern schlicht »im«), die seine Amtszeit prägte. Zweifellos eine Liberalisi­erung. Diese endete 1988, denn der Parteispit­ze war der Dialog Gysis mit der Kirche zu vertraut geworden. Man entließ den allzu erfolgreic­hen Staatssekr­etär stillschwe­igend. Der sarkastisc­h gewordene Gysi sagte daraufhin dem Staat den baldigen Untergang voraus.

All das gehört zur DDR-Historie, die sich im Nachhinein halb wie ein schlechter Kriminalro­man, halb wie ein Drama von Schiller liest. Schütt: »Gysi war in allen Funktionen der Techniker, der zugleich Artist zu sein hatte – er wurde dorthin gerufen, wo es brannte, und seine Aufgabe bestand darin, das Feuer gleichsam in Papiertüte­n außer Reichweite zu schaffen.«

Hans-Dieter Schütt (Hg.): Klaus Gysi. Zwischen Buch und Botschaft. Hefte zur DDR-Geschichte, »Helle Panke« e. V., 74 S., br., 3 €.

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Foto: Pressefoto/Bernd u. Hannelore Heinz Klaus Gysi bei einer Gedenkvera­nstaltung für die Opfer der Israelitis­chen Synagogeng­emeindes (Adass Jisroel) in Berlin, 1993

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