Ohne Illusionen, aber mit viel Hoffnungen
Bruno Flierl plädiert im Gespräch über Architektur und Gesellschaft für ein menschenwürdiges Leben und Wohnen
Einen »Doyen seiner Zunft« nennt ehrfurchtsvoll sein Verleger den Architekturtheoretiker Bruno Flierl, Jg. 1927. Der um etliche Jahre jüngere Frank Schumann ist beeindruckt von dessen ungebremster Mobilität und Aktivität. Auch in hohem Alter hält Flierl Vorträge, nimmt an Anhörungen teil und Pressetermine wahr, besucht Kolloquien und Protestveranstaltungen.
Der in Schlesien geborene Flierl, der noch in den Kriegsdienst gezwungen war, eigentlich Bildhauer werden wollte, 1948 bis 1951 aber ein Architekturstudium in Berlin-Charlottenburg und Weimar absolvierte, wirkte mit an der Gestaltung des OstBerliner Stadtzentrums, war Chefredakteur der Zeitschrift »Deutsche Architektur«, Dozent an der HumboldtUniversität und 2001 bis 2004 Mitglied Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin. Er wohnt n der Frankfurter Allee, umgeben von prall gefüllten Bücherregalen, darin etliche Publikationen aus seiner Feder. »Flierls Texte sind anspruchsvoll, keine Unterhaltungslektüre fürs Bett oder die Bahn, er hält sie keineswegs für akademisch abstrakt, sondern auf Verständlichkeit bedacht … Nun, alles ist eine Frage der Perspektive«, scherzt Schumann. »Flierl denkt prospektiv, das heißt in die Zukunft orientiert. Dabei sind sei
ne Arbeitsmittel antiquiert. Auf seinem Schreibtisch liegen Papier und Stifte – schwarze und bunte – zum Schreiben und Skizzieren. Den Computer nutzt er nur als Schreibmaschine und als Zugang zum Internet, um weltweit zu recherchieren, ein geübter Hand- und Kopfarbeiter eben. Flierl kommt aus der Geschichte und fühlt sich ihr in der Gegenwart und für die Zukunft verpflichtet.«
Damit hat der geübte Interviewer den Interviewten lebendig eingeführt, den der Leser in dem Gesprächsband sukzessive näher kennenlernt, in seinen Ansichten und Urteilen, Haltungen und Handlungen. Ein parteilicher wie akribischer Wissenschaftler legt Zeugnis ab. Seine Antworten auf Schumanns Fragen sind wohlüberlegt, nahezu ziseliert.
Der Wechsel von Friedenau nach Pankow war eine bewusst politische Entscheidung – für die antifaschistische und antimilitaristische Orientierung des Staates DDR, in dessen leitenden Institutionen viele gestandene Kämpfer gegen den Faschismus und Militarismus wirkten, unter ihnen von den Nazis verfolgte Juden. Dennoch war es für den jungen Flierl anfangs schwierig, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Und es sollte bis zuletzt, bis zum Ende der DDR, Konflikte und Streit über den optimalen Weg von Gesellschaft und Architektur geben. Erst recht danach. Flierls erstes Projekt in der Hauptstadt der DDR ist das Walter-Ulbricht-Stadion, später Stadion der Weltjugend, das er als Assistent von Selman Selmanagić, vom Bauhaus inspiriert, realisierte. »Ich bin ohne Illusionen aber mit Hoffnungen in die DDR gegangen«, sagt Flierl. »Andere gingen den umgekehrten Weg, weil sie mit der gesellschaftlichen Entwicklung nicht einverstanden oder unzufrieden waren, oder weil man ihnen übel mitgespielt oder sie vergrault hatte.« Flierl hingegen war fasziniert vom im Sommer 1950 verabschiedeten »Aufbaugesetz« der DDR: Grund und Boden, städtebauliches Planen und Bauen im gesellschaftlichen Interesse. 1952 wird er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Deutschen Bauakademie, deren Präsident ein Enkel von Wilhelm und Neffe von Karl Liebknecht, Kurt Liebknecht, ist.
Er wird Mitglied der SED, erhält trotz Befähigung jedoch keine Professorenstelle. Im Gegenteil, erleidet ein Parteiverfahren, wird zur persona non grata. Ein nicht genehmer Beitrag zur IX. Kunstausstellung der DDR 1982 in Dresden wurde aus dem Katalog zu dieser entfernt. Flierls Vergehen: Er hatte Überlegungen zu nachhaltiger Umweltgestaltung geäußert und dadurch vor allem die Kritik gesellschaftlicher Auftraggeber geerntet. Dennoch hat er nie daran gedacht, die DDR zu verlassen. Seine erste Auslandsreise führte ihn 1984 nach London, zwei Jahre darauf auf Einladung des Stadtplaners Peter Marcuse, Sohn des Philosophen Herbert Marcuse, nach New York. Er studierte Hochhäuser in der Folge auch in anderen Metropolen und konnte die dort gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse einbringen, als er 1993 von der Stadt Berlin beauftragt wurde, mit dem Westarchitekten Walter Rolfes den Pariser Platz in Berlin, im einstigen Niemandsgelände im Schatten der Mauer, zu gestalten, »Ich bin bis heute glücklich darüber, was an diesem alten Ort von Berlin neu entstand, und natürlich auch darüber, dass ich mit meinem architekturtheoretischen Wissen gerade dort praktisch zur Wirkung kam«, so Flierl
Er war gegen den Abriss des Palastes der Republik und den Wiederaufbau des Schlosses, das für ihn ein Ausdruck der Musealisierung und Renationalisierung von Berlins Mitte und vor allem undemokratisch beschlossen worden ist, lobt jedoch die Konzeption des Innenlebens vom italienischen Architekten Franco Stella. Er kritisiert die Hochhausprojekte am Berliner Alexanderplatz, die den Blick auf die von der UNESCO-Kulturerbekommission bereits avisierte KarlMarx-Allee verdeckt, sie wohl »absichtsvoll visuell entsorgen« soll.
Und er hat manch guten Rat an seine jüngeren Kollegen: »Wir Städteplaner im vereinten Deutschland sind gut beraten, im Umgang mit dem städtebaulichen Erbe der DDR – in allen neuen Bundesländern und gerade auch in Berlin – generell keinen retrospektiven Rückbau in die Vergangenheit vor der DDR zu betreiben, sondern einen prospektiven Weiterbau in die Zukunft nach der DDR zu orientieren.«
Wie schon gesagt, Flierl äußert sich gern zu aktuellen Debatten. Einmalig nennt er das 1973 beschlossene Wohnungsbauprogramm, »ein sozialpolitisches Vorhaben: die Verwirklichung des universellen Menschenrechts auf bezahlbare Wohnung«. Zu den Plänen seriellen Bauens heute, um den eklatanten Wohnungsmangel abzumindern, meint er: »Ich bin gespannt auf die bundesdeutsche ›Platte‹ und den Mietpreis der industriell errichteten Wohnungen.«
Dieses Buch, versehen mit zahlreichen architektonischen Skizzen, sollten nicht nur Architekten und Studenten lesen, auch nicht nur in der DDR sozialisierte Bürger – die darin allerdings viele unbekannte Details entdecken werden, beispielsweise, dass in Berlin zu DDR-Zeiten ein monumentales »Regierungshochhaus« geplant war –, sondern alle Bürger, die an einem vernünftigen, menschenwürdigen und ökologischen Zusammenspiel von Architektur, Politik und Gesellschaft interessiert sind.
Bruno Flierl: Haus. Stadt. Mensch. Über Architektur und Gesellschaft: Verlag Das Neue Berlin, 288 S., br., 19,99 €.