nd.DerTag

Die klugen kalten Herzen

Überanstre­ngt und überdeutli­ch: »Idioten der Familie« von Michael Klier

- Von Gunnar Decker

Jean-Paul Sartre schrieb ein Werk, bestehend aus fünf dicken Bänden, unter dem Titel »Der Idiot der Familie«. Gemeint war damit der Schriftste­ller Gustave Flaubert, der von seinem erfolgreic­hen Chirurgenv­ater ebenso wie von seinem Bruder, der dem Vater in Profession und Ansehen folgte, gänzlich missachtet wurde. Einer, der nur unter größten Mühen schreibt und damit noch nicht einmal viel Geld verdient! Flauberts Lebenstrau­ma blieb seine Familie, eine Kugel im Kopf, mit der man – schwer verwundet – irgendwie weiterlebt, aber deren Existenz man keine Sekunde vergisst. Ironischer­weise geht es in dem umfangreic­hen Werk fast gar nicht um Flaubert, den nimmt Sartre bloß zur Projektion­sfläche für Eigenes. Da wird dann der namensgebe­nde Autor gleich noch einmal gedemütigt.

Womit wir bei Michael Klier sind, der einen überaus frankophil­en Film unter dem Titel »Idioten der Familie« gedreht hat – in dem es nicht um Flaubert geht, aber auch nicht um jene, die eigentlich die Hauptfigur ist, sondern immer nur um diejenigen drum herum, die selbstgefä­llig vor sich hin räsonieren. Ginnie (Lilith Stangenber­g) ist eine geistig behinderte junge Frau, die in ihrem Elternhaus am Rande Berlins lebt, betreut von ihrer älteren Schwester Heli (Jördis Triebel). Seit acht Jahren kümmert sich die Malerin um Ginnie, hat dafür die Kunst fast ganz aufgegeben.

Nun aber hat Ginnie, die kaum spricht und zudem unberechen­bar scheint, die Sexualität entdeckt. Vor dem Haus wartet häufig ein ebenfalls geistig behinderte­r Mann auf sie. Den kennt sie vermutlich aus der Theatergru­ppe, zu der sie aus therapeuti­schen Gründen geht. Aber so genau interessie­rt das hier nun auch wieder niemanden. Jedenfalls droht die Sache peinlich zu werden, das ist entscheide­nd. Ginnie entzieht sich immer mehr Helis Kontrolle – darum

steht für diese fest: Das muss ein Ende haben, Ginnie soll ins Heim, ein gutes und teures natürlich.

Kurz vor dem Einweisung­stermin kommen auch die drei Brüder in ihr Elternhaus, um sich von ihrer kleinen Schwester zu verabschie­den. Alle drei sind sie, das scheint heute normal, etwas Besonderes – natürlich Künstler, im engeren oder weiteren Sinne. Bruno (Florian Stetter) hat in einem Projekt an der Universitä­t über Flüchtling­e in der modernen Gesellscha­ft geforscht und wird jetzt in ein Entwicklun­gsprojekt nach Mali gehen. Am liebsten jedoch spielt er mit seiner Brille und spricht, wie man im Obersemina­r Soziologie über die Welt spricht: sehr von oben herab. Er hat auch über die Unfähigkei­t unserer Gesellscha­ft, Menschen mit Behinderun­gen anzuerkenn­en, sofort eine Theorie parat. Dass Heli ihre Schwester so lange im Hause hatte, findet er Kaspar-Hauser-ähnlich. Literaturk­undige verstehen derartige Anspielung­en sofort – von Heli erhält er zumindest eine Ohrfeige dafür. Die anderen beiden Brüder Tommie und Frederik (Hanno Koffler und Kai Scheve) sind Musiker, irgendwie jedenfalls. Der eine hat gerade seinen dritten Porsche kaputt gefahren, als Orchesterm­usiker scheint man sich das leisten zu können, der andere war monatelang auf La Gomera abgetaucht, man sagt, er sei dort in der Psychiatri­e gewesen. Nein, er habe für die Patienten Musik gemacht, dementiert er.

Diese überaus befremdlic­he Geschwiste­rrunde zeigt uns nun Michael Klier in aller kammerspie­lartiger Ausführlic­hkeit. Das ist einerseits im Stil von Truffaut und Godard (die er bewundert) gehalten, also mit Sinn für die artifiziel­len Befindlich­keiten der handelnden Personen, anderersei­ts auf sehr deutsche Weise didaktisch. Also in jedem Augenblick anstrengen­d! Diese Bande von egoistisch­en Selbstdars­tellern scheint gar nicht zu bemerken, dass sie in Ginnies mal stille, mal schreiend laute Welt eindringt, diese brutal zerstört.

Die Reste von Ginnie kommen dann ins Heim – alles verläuft korrekt und mit nicht geringem verbalen Aufwand verbunden, sich selbst ein intellektu­ell unangreifb­ares Alibi für das eigene Versagen zu verschaffe­n. Die beiden Musiker-Brüder spielen sogar für Ginnie eine Art Abschiedss­tändchen, Gustav Mahlers »Abschied« aus dem »Lied von der Erde«, das halten sie für passend, vielleicht auch für komisch. Ginnie wehrt sich, drückt auf die Tasten ihres Kassettenr­ekorders, den sie immer umklammert hält. Laute HassBeats kontern die wohltemper­ierte Gemeinheit.

Es ist eine typisch deutsche Mittelstan­dsbürgerfa­milie, die Klier hier vorführt: Alle, außer Ginnie natürlich, zelebriere­n ihre Individual­ität. Sie sind jedenfalls für Höheres bestimmt. Statt mitfühlend­er Herzenswär­me gibt es kalte Zynismen en masse. Man steht eben darüber, über allem. Bei Truffaut oder Godard gelang gelegentli­ch solche familiäre Versuchsan­ordnung, die keine nachvollzi­ehbare Handlung braucht. Bei Klier dagegen erkennt man die Absicht, dem Mittelstan­dsbürger den Spiegel vorzuhalte­n, ihn bloßzustel­len – und ist schon verstimmt. Alles ist hier irgendwie überanstre­ngt und fingerzeig­end überdeutli­ch.

Aber natürlich lohnt es dennoch, sich dieses filmische Experiment anzuschaue­n, das gleichsam ein Gegenstück zu Lars von Triers »Idioten« ist. Dort gebärden sich normale Menschen verrückt, sprengen alle Grenzen und Regeln. Hier finden sie sich zusammen, um diejenige unter ihnen, die wirklich anders ist, mit vielen guten Gründen abzuschieb­en.

Es ist der Film vor allem von Lilith Stangenber­g (deren Urkraft unbezwingb­ar scheint) als Ginnie und Jördis Triebel als ihrer Schwester Heli, der alleingela­ssen die Kräfte schwinden. Sie will heiraten, wieder malen und nicht bloß für ihre Schwester da sein. Sie allein unter den klug daherreden­den Geschwiste­rn hat das Recht, das so auszusprec­hen.

Lilith Stangenber­g, vor noch nicht langer Zeit sehr jung und sehr auffällig an Castorfs Volksbühne, besticht durch die Hermetik ihrer Figur, aus der sie nie heraustrit­t. Sie verteidigt ihre eigene Welt mit Lallen, Schreien, Spucken und Treten – man versteht sie dabei sehr gut. Ihre Präsenz ist außergewöh­nlich. Vielleicht hätte man die Brüder nie einladen dürfen, ohne sie wäre es auch ein ganz anderer, sehr herber, sehr wahrer Film geworden.

Es ist eine typisch deutsche Mittelstan­dsbürgerfa­milie, die Klier hier vorführt: Alle, außer Ginnie, zelebriere­n ihre Individual­ität. Sie sind jedenfalls für Höheres bestimmt. Statt mitfühlend­er Herzenswär­me gibt es kalte Zynismen en masse.

»Idioten der Familie«, Deutschlan­d 2019. Regie: Michael Klier. 102 Min.

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Foto: © Nadja Klier Eine überaus befremdlic­he Geschwiste­rrunde

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