Der Charme einer Modelleisenbahn
Ohne Artistik, Glanz, Fantasie: »Orlando«, inszeniert von Katie Mitchell an der Berliner Schaubühne
Virginia Woolfs »Orlando« von 1928 ist eines der Bücher, die man immer wieder lesen kann. Die Leichtigkeit, mit der gesellschaftliche und literarische Konventionen parodiert und zugleich überflügelt werden, ist nach wie vor unübertroffen. Artistik, Glanz, Fantasie – in »Orlando« gibt es das alles.
Nicht nur hat der Protagonist die schönsten Beine der Welt, außerdem lebt er mehrere hundert Jahre und wechselt sein Geschlecht. »Orlando war eine Frau geworden – das ist nicht zu leugnen. Aber in jeder anderen Hinsicht blieb Orlando genauso, wie er gewesen war. Der Wechsel des Geschlechts, wenn er auch die Zukunft der beiden änderte, tat nicht das geringste, ihre Identität zu ändern.«
Die größten damit einhergehenden Schwierigkeiten – und daran hat sich bis in die heutigen Tage wenig geändert – sind juristischer Natur. Orlando muss sich mehrerer Gerichtsverfahren erwehren. »Die Hauptanklagepunkte gegen sie lauteten, (1) dass sie tot sei und von daher kein wie auch immer geartetes Ei
gentum besitzen könne; (2) dass sie eine Frau sein, was ungefähr auf dasselbe hinausläuft«. Und auch dass es einer Dame nicht schickt, aufdringlichen Männern kurzerhand den Degen in den Leib zu rammen, bedauert Orlando außerordentlich. Überraschende Wendungen, ausgefallene Beschreibungen und geschliffener Witz machen den Roman aus, den Woolf ihrer Freundin und zeitweiligen Geliebten Vita Sackville-West widmete, die zugleich als Vorlage und Inspiration diente.
An der Berliner Schaubühne hat Katie Mitchell »Orlando« auf die Bühne gebracht. Die Anordnung ist, wie man es von der britischen Regisseurin kennt: Das Publikum wohnt der Erstellung eines Live-Films bei. Am rechten Bühnenrand sind Maske und Kostüme, das Bühnenbild ist verschiebbar, zahlreiche Markierungen sind auf dem Boden, Requisiten werden auf- und abgebaut. Dazwischen schlängeln sich die von mehreren Kameras verfolgten Schauspieler, während über der Szenerie eine große Leinwand prangt, auf der das Ergebnis der Bemühungen auf der Bühne zu begutachten ist. Ebenfalls erhöht ist die Kabine für die Erzählerin, die das Romangeschehen unaufdringlich freundlich und gleichmütig ins Mikrofon spricht. Die Hauptdarstellerin Jenny König eilt von Szene zu Szene und blickt mit ihren großen Augen in die Kamera. Optisch erinnert sie mit ihren roten Haaren an Tilda Swinton in Sally Potters Verfilmung von »Orlando« (1992), mit dem legendären Quentin Crisp als Königin. Doch was Orlando auch tut – schreiben, vögeln, trinken, feiern –, es wirkt bei Mitchell fern und mechanisch.
Das Skript versucht vor allem, die Handlung auf Spielfilmlänge zu reduzieren. Dadurch geht die lustvoll ausschweifende Sprache Woolfs verloren. Der Ton verändert sich, die Ironie der Vorlage blitzt nur an einigen Stellen auf. So entsteht ein schnulziges Film-Biopic, in das vorgefertigte Szenen, Naturbilder oder auch – ohne weiteren Zusammenhang – Aufnahmen von Demonstrationen gegen den Brexit hineingeschnitten werden.
Als dem Stoff geradezu gegensätzlich erweist sich die Bühnensprache der Regisseurin. Von sprühendem Humor, ungebändigtem Geist, ungebundener Erotik und prickelnder Lust ist in der Schaubühne rein gar nichts mehr zu spüren. Allein die technisch sicher anspruchsvoll organisierte Abfolge streng choreografierter Kamerafahrten und Kostümwechsel lässt sich bewundern, was ungefähr den Charme einer ausgetüftelten Modelleisenbahnanlage hat.
Die Schauspieler sind in dieses Korsett von Abläufen gezwängt, von Spiel und freiem Ausdruck keine Spur. Auch Konrad Singer, der sich alle Mühe gibt mit dem Mittel der Übertreibung noch etwas Witz in die Inszenierung zu pressen, verpufft nahezu wirkungslos. In diesem Korsett können die Schauspieler nur untergehen – und sie tun es auch.
Die Inszenierung ist raffiniert, aber gedankenlos, sie betreibt viel Aufwand, hat aber keine Idee. Auch die bemühten Brückenschläge in die Gegenwart, im Hintergrund wummert Musik von Peaches und am Ende ist Orlando natürlich in einer hippen und supercoolen Berliner WG gelandet, die eifrig Gruppenknutschen betreibt, zeugen nicht gerade von einer originellen Deutung des Stoffs. Was soll eigentlich so reizvoll daran sein, der Produktion eines mäßig unterhaltsamen Films beizuwohnen? Das Theater hält zahlreiche bessere Mittel bereit, um einem Roman wie »Orlando« auf die Bühne zu verhelfen. Man kann auf diese Mittel allesamt verzichten. Nur sehenswert ist das nicht. Diese Art der Bühnenästhetik hat sich erschöpft in der blinden Anwendung einer leerlaufenden Methode.
Die Inszenierung ist raffiniert, aber gedankenlos, sie betreibt viel Aufwand, hat aber keine Idee.
Nächste Vorstellungen: diesen Donnerstag, außerdem 13. September, 25., 26. und 27. Oktober.