Theoretische Physik zum Mitfiebern
In der Anime-Serie »Undone« fliegt die Realität immer wieder auseinander
Animationsserien für ein erwachsenes Publikum sind immer noch ein eher randständiges Phänomen, das meist im Comedybereich angesiedelt ist und mit kalauernder popkultureller Gesellschaftskritik im Stil von »Simpsons« oder »Family Guy« aufwartet. Dabei bieten gezeichnete oder computeranimierte Bilder vor allem für Fantastik und Science Fiction großartige Möglichkeiten, wenn es darum geht, Sehgewohnheiten zu hinterfragen und visuell die Grenzen der Realität zu sprengen. In Japan hat sich in den letzten Jahrzehnten ein ganzes fantastisches und kommerziell sehr erfolgreiches Animegenre
etabliert, wobei Filme wie »Ghost in the shell« und »Chihiros Reise ins Zauberland« bereits Klassiker sind, die auch außerhalb des Genres wahrgenommen und gewürdigt werden. Mit »Undone« hat Amazon nun eine eigene Anime-Produktion im Programm, in der die Realität im wahrsten Sinn des Wortes immer wieder in Scherben auseinanderfliegt.
Im Zentrum der Geschichte, die im Nirwana einer US-amerikanischen Urbanisierung angesiedelt ist, steht die 28-jährige Alma, halb Mexikanerin, die ihren gleichbleibenden Alltagstrott hasst. Die Beziehung mit dem Freund läuft nicht besonders gut, ihre Schwester will heiraten und die autoritäre mexikanische Mutter geht der selbstbewussten Tochter mächtig auf die Nerven. Alles verändert sich mit einem Schlag dramatisch, als Alma bei einem Autounfall fast ums Leben kommt und für kurze Zeit ins Koma fällt. Beim Aufwachen im Krankenhaus steht plötzlich ihr seit Jahren verstorbener Vater vor ihr und bittet sie um Hilfe. Ist das eine Folge des Unfalls, hält das Koma noch an, ist das der Beginn einer Psychose oder hat Alma plötzlich Zugriff auf eine Realität, in der die geltenden Regeln von Raum und Zeit aufgehoben oder anders und neu sortiert sind?
»Undone« changiert überaus gekonnt zwischen dieser fantastischen, alle Regeln außer Kraft setzenden Odyssee durch eigene Ängste und Hoffnungen und einem zeitgeistigen, flott erzählten sozialem Realismus, in dem es um familiäre Spannungen, die bevorstehende Heirat der Schwester, Diskussionen um Alltagsrassismus und Almas Jobsituation als Erzieherin in einer Kita geht.
Erst im Lauf der Zeit versteht Alma, die zu Beginn glaubt, ihren Verstand zu verlieren, dass ihr verstorbener Vater, ein Professor für theoretische Physik, anhand des Phänomens der Quantenverschränkung eine Zeitreisetheorie entwickelt hat und sie nun braucht, um den Mord an ihm aufzuklären. Nur wie ist das möglich? Und hat seine wissenschaftliche Forschung etwas mit dem Verbrechen zu tun, dem er zum Opfer gefallen ist?
»Undone« fächert ein ganzes Panorama miteinander verschränkter Fragen auf, die zu beantworten keineswegs einfach sind, die Handlung aber spannungsgeladen vorantreiben und theoretische Physik quasi zum Mitfiebern bietet. Alma muss sich entscheiden, ob sie wieder normal werden und in ihren eigentlich verhassten, aber sicheren Alltag zurück will oder ob sie sich auf die Fähigkeit einlassen soll durch die Zeit zu reisen mit all den Konsequenzen, die diese außergewöhnliche Fertigkeit und das damit verbundene Wissen mit sich bringt.
Beachtlich an der Serie ist, dass diese für die Handlung wichtigen psychologischen Momente mit den animierten Zeichenfiguren dargestellt werden und dabei überraschend viel Tiefe besitzen. Wobei ein Teil der Serie zuerst mit echten Schauspielern gedreht und dann mit Zeichnungen nachbearbeitet wurde. Was dabei herauskommt kann sich sehen lassen und bietet die Möglichkeit das Auseinanderfallen der Realität, die Zeitsprünge, das Abdriften Almas in Halluzinationen ohne komplizierte Tricktechnik und dennoch bildgewaltig in Szene zu setzen.
Alma muss sich entscheiden, ob sie wieder in ihren eigentlich verhassten, aber sicheren Alltag zurück will oder ob sie sich auf die Fähigkeit einlassen soll, durch die Zeit zu reisen.
»Undone«, ab dem 13. September bei Amazon Prime.