Stachelige Kritik
Peter-Michael Diestel über die Umbruchszeit in der DDR und seinen Anteil an der deutschen Vereinigung
Peter-Michael Diestel kritisiert die Arroganz gegenüber »Ossis«.
Herr Diestel, Sie können der DDR jetzt, da sie verschwunden ist, gewisse positive Seiten abgewinnen, bemerken Sie sinngemäß in Ihrem neuen Buch. Welche wären dies?
Das ist falsch zusammengefasst. Ich habe eine Geschichte, wie jeder Mensch eine Geschichte hat. Meine Geschichte und die meiner Brüder, meiner Familie, meiner Freunde fand in der DDR statt. Meine persönliche Geschichte begann im Jahr 1952 und endete 1990, als ich als einer der Entscheidungsträger die DDR abgeschafft habe. Was für manche vielleicht verwunderlich sein mag, ich beteilige mich nicht an der Zerstörung meiner, unserer Geschichte. Ich habe schon vor nun bald 30 Jahren vor einer womöglich unglücklichen Ausgestaltung der deutschen Einheit gewarnt. Ich habe immer gesagt, wenn weiter so auf die DDR eingeprügelt wird, wenn sie weiterhin mit der Nazidiktatur gleichgesetzt wird, dann wird sie im Bewusstsein der Ostdeutschen als ein wunderschönes, biedermeierliches System in Erinnerung bleiben.
Und das war die DDR nicht?
Das war sie nicht! Sie war ein sehr widersprüchlicher Staat, den sich die Ostdeutschen nicht ausgesucht haben. Sie ist als logische, konsequente Folge des 8. Mai 1945 und der Teilung Deutschlands in Einflusssphären der Siegermächte entstanden. Der am 7. Oktober 1949 in der sowjetisch-kommunistischen Besatzungszone gegründete Staat war nach eigenem Verständnis eine Diktatur des Proletariats. Diese aber mit dem »Dritten Reich« zu vergleichen, ist eine Unverschämtheit, bedeutet eine Verniedlichung des Faschismus. Ich wehre mich auch gegen die Unterstellung, wir Ostdeutschen seien auf einem großem Misthaufen aufgewachsen, hätten die Welt nur durch Stacheldraht und Gefängnisgitter betrachtet. Wer das sagt, lügt. Und er hat auch einen Grund zum Lügen.
Wir haben uns unsere Vergangenheit nicht ausgesucht, sie aber würdevoll durchlebt. Und da meine ich alle, die sich 1989/90 von der sowjetisch geprägten, kommunistischen Diktatur getrennt haben, darunter auch die vielen Mitglieder der SED und Angehörigen der »bewaffneten Organe«, wie das damals hieß, die sich nicht gegen diesen Prozess gestemmt haben. Ich habe als Innenminister der letzten DDR-Regierung zahlreiche Gespräche mit Menschen in den mir unterstehenden Ministerien, mit Mitarbeitern der Staatssicherheit, der Volkspolizei, des Zolls und so weiter gesprochen, um mit ihnen friedlich die deutsche Einheit herbeizuführen. Ich bin all diesen Menschen dankbar, dass es gelungen ist.
Aber viele dieser Menschen haben sich eine andere Einheit vorgestellt oder wollten jene überhaupt nicht.
Sie wollten diesen Prozess etwas anders gestalten. Aber sie haben sich nicht dagegen gestellt. Kommunistische Systeme greifen bei drohendem Machtverlust gern zur Gewalt ...
Nicht nur kommunistische.
Ich rede aber über kommunistische. Ich erinnere an den 17. Juni 1953 in der DDR, an Ungarn 1956, Prag 1968, China 1989. Mein Vorgänger im Amt als Innenminister, Lothar Arendt, und der ehemalige Stasi-General Markus Wolf gehörten zu meinen treuesten und klügsten Ratgebern. Sie haben den Spagat zwischen ihren Überzeugungen und der Einsicht in die Vernunft geschafft, mit mir, mit Lothar de Mazière, mit Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble den Weg in die Einheit zu gehen und nicht zu blockieren.
War die Einheit alternativlos?
Ja. Und es war ein Glück, dass auch die »bewaffneten Organe« kein Blutvergießen wollten. Auch nicht der Polizeichef, auch nicht der Stasi-Chef in Leipzig. Auch die Kommandeure der Kampftruppen wollten nicht gegen ihre Kinder, Freunde, Verwandte aufmarschieren. Die Entscheidung, keine Gewalt anzuwenden, haben sie nicht aus weltanschaulicher oder persönlicher Schwäche oder Feigheit getroffen. Sondern aus Menschlichkeit. Und daran denke ich in Demut und tiefer Dankbarkeit zurück.
Lassen Sie uns über Ihre politische Entwicklung sprechen. Sie durften zunächst nicht studieren?
Als bekennender Christ, der nicht bei den Jungpionieren und nicht in der FDJ war, durfte ich zunächst nicht Jura studieren, habe mich aber durchgesetzt. Allerdings durfte ich nicht als Anwalt praktizieren. Die 600 Rechtsanwälte in der DDR sind nach ihrer Kaderakte sorgsam ausgewählt worden. Rechtsanwalt war aber mein berufliches Lebensziel. Als ich später, 1990, Erich Honecker in seinem kirchlichen Refugium in Beelitz besuchte, sprach ich ihn darauf an. Er sagte nur: »Ja, die Arbeit mit den Kadern war unser Problem.« Ich sagte: »Herr Honecker, Sie haben sich Feinde gemacht, die gar nicht ihre Feinde sein wollten.« Auch daran ist die DDR kaputt gegangen.
Man hat unsinnigerweise den eigenen Bürgern misstraut.
Frau Vesper, ob Sie es glauben oder nicht: Ich werde immer wieder gefragt, warum ich nicht abgehauen bin aus diesem furchtbaren Staat. Ich wollte nie abhauen. Ich hätte die DDR nie den Kommunisten überlassen. Das war mein Staat, Leipzig war meine Stadt. Natürlich war ich auch in hohem Maße unzufrieden. Ich hätte aber nie im Leben meine Freunde und meine Familie im Stich gelassen. Das können andere anders sehen. Ich verurteile keinen, der einen Ausreiseantrag gestellt hat oder über Ungarn in den Westen gegangen ist. Diese Menschen haben eben eine andere Lebensentscheidung getroffen.
Wie kam es, dass Sie zu einem der bekanntesten Akteuren des Umbruchs in der DDR wurden?
Wir hatten in Leipzig im Umfeld der Thomaskirche bereits einen Ge
sprächskreis gegründet, da gab es noch keine Initiative für Frieden und Menschenrechte, noch kein Neues Forum. Wir waren die ersten, die montags demonstrierten und dies regelmäßig taten. Weil wir der Meinung waren, die Kirche ist dazu da, sich um die Seelen der Menschen zu kümmern. Und die schienen uns damals im SED-Regime zu verkümmern.
Aber in die Politik sind Sie relativ spät eingestiegen?
Ich wollte nie ein Politiker sein und bin nie ein Politiker gewesen. Ich habe immer versucht, als anständiger Schlawiner meinen Lohn zu verdienen. Im Laufe meiner Berufstätigkeit habe ich nie so viele Schwachköpfe wie in der Politik erlebt, Menschen, mit denen ich abends kein Bier trinken und mit denen ich nicht Skat spielen würde. Und das Volk erkennt natürlich die Dilettanten.
Sie haben nach dem Mauerfall die Christlich-Soziale Partei Deutschlands gegründet ...
Wir waren die ersten, die sich die Einheit auf die Fahnen geschrieben haben. Darauf bin ich stolz. Ich bin damals vom Büroleiter des Bundeskanzleramtes angerufen worden, der mir vorwarf: »Wie können Sie denn die deutsche Einheit fordern, wir sind noch lange nicht so weit.«
Das war wohl vor Kohls »ZehnPunkte-Programm« vom 28. November 1989. Was antworteten Sie?
Ich antwortete: »Wissen Sie, ich kenne Sie nicht. Ich mache das, was ich für richtig halte.« Die Mauer ist vom Osten her eingetreten worden, von den Ostdeutschen. Aber nicht von Herrn Gauck, der war nicht dabei. Der durfte ja in den Jahren zuvor schon permanent ein- und ausreisen.
Im Januar 1990 nannte sich Ihre Partei in DSU, Deutsche Soziale Union, um. Sie waren deren Generalsekretär – bis Juni des Jahres. Dann traten Sie aus der von Ihnen gegründeten Partei aus. Warum?
Das war schmerzhaft, Aber in der Zeit, als ich Innenminister und zugleich stellvertretender Ministerpräsident war, konnte ich mich um die Partei nicht kümmern. Und diejenigen, die keine Ämter bekommen haben, spielten dann wilde Sau, nahmen Kontakt mit der westdeutschen NPD, der DVU und den Republikanern auf, mit rechtsradikalen Parteien, die nicht die Oder-Neiße-Grenze anerkennen wollten und sinnlose, politische Forderungen stellten..
Ich bin bürgerlich, ich bin konservativ. Ich liebe meine Heimat, ich liebe mein Vaterland. Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Das lasse ich mir von niemandem nehmen. Zum Stolz, ein Deutscher zu sein, gehört aber auch das Wissen darüber, was in den zwölf Jahren 1933 bis 1945 passiert ist. Da gehört die Scham über den Holocaust dazu, ebenso wie der Stolz auf das kulturelle Erbe, auf Goethe, Schiller und die vielen anderen großen Deutschen.
Gibt es in Ihrem Leben etwas, wofür sich schämen?
Ich schäme mich dafür, dass wir viele Menschen nicht mitgenommen haben. Ich hatte ihnen versprochen: »Ihr findet Euren Platz in der deutschen Einheit.« Sie haben ihn nicht gefunden. Es wurde abgewickelt, Millionen wurden arbeitslos. Es gibt keinen ostdeutsch sozialisierten Botschafter der Bundesrepublik.
Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, kurz: MfAA, wurde komplett abgewickelt.
Als ich das neulich in einer Fernsehsendung monierte, bekam ich anschließend eine E-Mail. Es gebe eine aus Leipzig stammende Botschafterin in Dschibuti. Ja, aber erst seit 2018! Und sie ist nur eine von über 200 Botschaftern der Bundesrepublik.
Ostdeutsche bleiben ausgegrenzt. Sie bilden nach wie vor die Ausnahme unter den Ministern und Staatssekretären auf Bundes- und Landesebene, unter den Professoren an den Universitäten, auf Leitungsebenen in Betrieben und Behörden. Die überwiegende Mehrheit kommt immer noch aus dem Westen. Es gibt keinen ostdeutschen Staatssekretär in altbundesdeutschen Landesministerien. Die Justiz, die Staatsanwaltschaften und Gerichte in Ostdeutschland setzen sich zu 80 Prozent aus Altbundesdeutschen zusammen. Warum diese Einbahnstraße? Warum diese Ausgrenzung? Warum kann kein Ostdeutscher eine ostdeutsche Universität führen? Warum ist der ostdeutsche Chefredakteur in einer ostdeutschen Zeitung die Ausnahme? Warum? Das geht doch so nicht.
Ihnen wurde einerseits einst ein verharmlosender Umgang mit der Stasi unterstellt, andererseits vorgeworfen, keine Amnestie für die Westspione der HVA durchgesetzt zu haben. Ihr Kommentar?
Zur angeblichen »Verharmlosung« der Stasi. Ich gehe mit normalen Leuten normal um. Die 100 000 Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit waren normale Bürger der DDR. Nur wenn sie strafrechtlich auffällig geworden, aus der Normalität ausgeschritten wären, hätte man sie als Straftäter behandeln müssen. So habe ich es gehalten. Das war richtig, das war konsequent. Möglicherweise haben wir den einzigen Geheimdienst weltweit aufgelöst, der keine Kapitalverbrechen begangen hat.
Zur Amnestie für Westspione: Ich hatte als Innenminister der DDR einen Berater aus dem Westen ...
Der ein Jahr später Präsident des Bundesverfassungsschutzes wurde. Und der seine Beratertätigkeit in Ihrem Amt als »das größte Abenteuer« seines Lebens bezeichnet hat.
Ich habe ihn ganz ausdrücklich von Wolfgang Schäuble erbeten. Er ist auf meinen Wunsch gekommen, weil mir die ganze geheimdienstliche Materie zu kompliziert war. Und dieser Mann hat sehr korrekt mitgearbeitet, einen Beitrag geleistet, dass die 40 Jahre gegeneinander gerichtete geheimdienstliche Tätigkeit in der Zeit des Kalten Krieges dem Einigungsprozess nicht auf die Füße gefallen ist. Dafür müssen wir Herrn Dr. Eckart Werthebach heute noch danken. Ja, ich wollte Amnestie. Und wir haben auch viel für die Sicherheit der Westspione gemacht. Einige haben dann in Russland, Bulgarien oder Rumänien einigermaßen friedlich gelebt.
Es gab auch keine Amnestie für die in der DDR untergetauchten ehemaligen RAF-Angehörigen, die dem bewaffneten Kampf abgeschworen hatten. Sie wurden alle verhaftet.
Aus meiner Sicht, aus der Sicht eines konservativen Menschen, waren sie Verbrecher. Man darf politisch Andersdenkende nicht mit Bomben und Kalaschnikow bekämpfen. Egal, ob man dem dann abschwört oder nicht, man muss damit rechnen, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Darüber habe ich damals auch mit Gregor Gysi gestritten, inzwischen ein lieber Freund.
Auf welchen Titel sind Sie am meisten stolz? Auf den Innenminister a. D., auf Ihren Doktortitel zum LPGRecht oder auf »Verdienter Melker des Volkes«, eine Auszeichnung, die Sie erhielten, als sie vor dem Studium als Rinderzüchter tätig waren?
Auf Titel war ich nie erpicht. Ich bin stolz darauf, in jeder Etappe meines Lebens etwas geleistet zu haben. Alles war schön: die Zeit als Rettungsschwimmer und Schwimmmeister, als Student und Akteur in der Friedlichen Revolution. Ich bin stolz, dass mein Name mit dem ostdeutschen Fußball verbunden ist, mit Hansa Rostock. Vor allem aber bin ich stolz darauf, dass mein Name untrennbar mit der deutschen Einheit verknüpft ist.
»Ich werde immer wieder gefragt, warum ich nicht abgehauen bin aus diesem furchtbaren Staat. Ich wollte nie abhauen. Ich hätte die DDR nie den Kommunisten überlassen. Das war mein Staat.«
»Wenn die DDR weiterhin mit der Nazidiktatur gleichgesetzt wird, dann wird sie im Bewusstsein der Ostdeutschen als ein wunderschönes, biedermeierliches System in Erinnerung bleiben.«