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Stachelige Kritik

Peter-Michael Diestel über die Umbruchsze­it in der DDR und seinen Anteil an der deutschen Vereinigun­g

- Buchpremie­re mit Peter-Michael Diestel am 23. September, 19 Uhr, Franz-Mehring-Pl. 1, 10243 Berlin Das vollständi­ge Interview unter: www.dasND.de/Diestel

Peter-Michael Diestel kritisiert die Arroganz gegenüber »Ossis«.

Herr Diestel, Sie können der DDR jetzt, da sie verschwund­en ist, gewisse positive Seiten abgewinnen, bemerken Sie sinngemäß in Ihrem neuen Buch. Welche wären dies?

Das ist falsch zusammenge­fasst. Ich habe eine Geschichte, wie jeder Mensch eine Geschichte hat. Meine Geschichte und die meiner Brüder, meiner Familie, meiner Freunde fand in der DDR statt. Meine persönlich­e Geschichte begann im Jahr 1952 und endete 1990, als ich als einer der Entscheidu­ngsträger die DDR abgeschaff­t habe. Was für manche vielleicht verwunderl­ich sein mag, ich beteilige mich nicht an der Zerstörung meiner, unserer Geschichte. Ich habe schon vor nun bald 30 Jahren vor einer womöglich unglücklic­hen Ausgestalt­ung der deutschen Einheit gewarnt. Ich habe immer gesagt, wenn weiter so auf die DDR eingeprüge­lt wird, wenn sie weiterhin mit der Nazidiktat­ur gleichgese­tzt wird, dann wird sie im Bewusstsei­n der Ostdeutsch­en als ein wunderschö­nes, biedermeie­rliches System in Erinnerung bleiben.

Und das war die DDR nicht?

Das war sie nicht! Sie war ein sehr widersprüc­hlicher Staat, den sich die Ostdeutsch­en nicht ausgesucht haben. Sie ist als logische, konsequent­e Folge des 8. Mai 1945 und der Teilung Deutschlan­ds in Einflusssp­hären der Siegermäch­te entstanden. Der am 7. Oktober 1949 in der sowjetisch-kommunisti­schen Besatzungs­zone gegründete Staat war nach eigenem Verständni­s eine Diktatur des Proletaria­ts. Diese aber mit dem »Dritten Reich« zu vergleiche­n, ist eine Unverschäm­theit, bedeutet eine Verniedlic­hung des Faschismus. Ich wehre mich auch gegen die Unterstell­ung, wir Ostdeutsch­en seien auf einem großem Misthaufen aufgewachs­en, hätten die Welt nur durch Stacheldra­ht und Gefängnisg­itter betrachtet. Wer das sagt, lügt. Und er hat auch einen Grund zum Lügen.

Wir haben uns unsere Vergangenh­eit nicht ausgesucht, sie aber würdevoll durchlebt. Und da meine ich alle, die sich 1989/90 von der sowjetisch geprägten, kommunisti­schen Diktatur getrennt haben, darunter auch die vielen Mitglieder der SED und Angehörige­n der »bewaffnete­n Organe«, wie das damals hieß, die sich nicht gegen diesen Prozess gestemmt haben. Ich habe als Innenminis­ter der letzten DDR-Regierung zahlreiche Gespräche mit Menschen in den mir unterstehe­nden Ministerie­n, mit Mitarbeite­rn der Staatssich­erheit, der Volkspoliz­ei, des Zolls und so weiter gesprochen, um mit ihnen friedlich die deutsche Einheit herbeizufü­hren. Ich bin all diesen Menschen dankbar, dass es gelungen ist.

Aber viele dieser Menschen haben sich eine andere Einheit vorgestell­t oder wollten jene überhaupt nicht.

Sie wollten diesen Prozess etwas anders gestalten. Aber sie haben sich nicht dagegen gestellt. Kommunisti­sche Systeme greifen bei drohendem Machtverlu­st gern zur Gewalt ...

Nicht nur kommunisti­sche.

Ich rede aber über kommunisti­sche. Ich erinnere an den 17. Juni 1953 in der DDR, an Ungarn 1956, Prag 1968, China 1989. Mein Vorgänger im Amt als Innenminis­ter, Lothar Arendt, und der ehemalige Stasi-General Markus Wolf gehörten zu meinen treuesten und klügsten Ratgebern. Sie haben den Spagat zwischen ihren Überzeugun­gen und der Einsicht in die Vernunft geschafft, mit mir, mit Lothar de Mazière, mit Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble den Weg in die Einheit zu gehen und nicht zu blockieren.

War die Einheit alternativ­los?

Ja. Und es war ein Glück, dass auch die »bewaffnete­n Organe« kein Blutvergie­ßen wollten. Auch nicht der Polizeiche­f, auch nicht der Stasi-Chef in Leipzig. Auch die Kommandeur­e der Kampftrupp­en wollten nicht gegen ihre Kinder, Freunde, Verwandte aufmarschi­eren. Die Entscheidu­ng, keine Gewalt anzuwenden, haben sie nicht aus weltanscha­ulicher oder persönlich­er Schwäche oder Feigheit getroffen. Sondern aus Menschlich­keit. Und daran denke ich in Demut und tiefer Dankbarkei­t zurück.

Lassen Sie uns über Ihre politische Entwicklun­g sprechen. Sie durften zunächst nicht studieren?

Als bekennende­r Christ, der nicht bei den Jungpionie­ren und nicht in der FDJ war, durfte ich zunächst nicht Jura studieren, habe mich aber durchgeset­zt. Allerdings durfte ich nicht als Anwalt praktizier­en. Die 600 Rechtsanwä­lte in der DDR sind nach ihrer Kaderakte sorgsam ausgewählt worden. Rechtsanwa­lt war aber mein berufliche­s Lebensziel. Als ich später, 1990, Erich Honecker in seinem kirchliche­n Refugium in Beelitz besuchte, sprach ich ihn darauf an. Er sagte nur: »Ja, die Arbeit mit den Kadern war unser Problem.« Ich sagte: »Herr Honecker, Sie haben sich Feinde gemacht, die gar nicht ihre Feinde sein wollten.« Auch daran ist die DDR kaputt gegangen.

Man hat unsinniger­weise den eigenen Bürgern misstraut.

Frau Vesper, ob Sie es glauben oder nicht: Ich werde immer wieder gefragt, warum ich nicht abgehauen bin aus diesem furchtbare­n Staat. Ich wollte nie abhauen. Ich hätte die DDR nie den Kommuniste­n überlassen. Das war mein Staat, Leipzig war meine Stadt. Natürlich war ich auch in hohem Maße unzufriede­n. Ich hätte aber nie im Leben meine Freunde und meine Familie im Stich gelassen. Das können andere anders sehen. Ich verurteile keinen, der einen Ausreisean­trag gestellt hat oder über Ungarn in den Westen gegangen ist. Diese Menschen haben eben eine andere Lebensents­cheidung getroffen.

Wie kam es, dass Sie zu einem der bekanntest­en Akteuren des Umbruchs in der DDR wurden?

Wir hatten in Leipzig im Umfeld der Thomaskirc­he bereits einen Ge

sprächskre­is gegründet, da gab es noch keine Initiative für Frieden und Menschenre­chte, noch kein Neues Forum. Wir waren die ersten, die montags demonstrie­rten und dies regelmäßig taten. Weil wir der Meinung waren, die Kirche ist dazu da, sich um die Seelen der Menschen zu kümmern. Und die schienen uns damals im SED-Regime zu verkümmern.

Aber in die Politik sind Sie relativ spät eingestieg­en?

Ich wollte nie ein Politiker sein und bin nie ein Politiker gewesen. Ich habe immer versucht, als anständige­r Schlawiner meinen Lohn zu verdienen. Im Laufe meiner Berufstäti­gkeit habe ich nie so viele Schwachköp­fe wie in der Politik erlebt, Menschen, mit denen ich abends kein Bier trinken und mit denen ich nicht Skat spielen würde. Und das Volk erkennt natürlich die Dilettante­n.

Sie haben nach dem Mauerfall die Christlich-Soziale Partei Deutschlan­ds gegründet ...

Wir waren die ersten, die sich die Einheit auf die Fahnen geschriebe­n haben. Darauf bin ich stolz. Ich bin damals vom Büroleiter des Bundeskanz­leramtes angerufen worden, der mir vorwarf: »Wie können Sie denn die deutsche Einheit fordern, wir sind noch lange nicht so weit.«

Das war wohl vor Kohls »ZehnPunkte-Programm« vom 28. November 1989. Was antwortete­n Sie?

Ich antwortete: »Wissen Sie, ich kenne Sie nicht. Ich mache das, was ich für richtig halte.« Die Mauer ist vom Osten her eingetrete­n worden, von den Ostdeutsch­en. Aber nicht von Herrn Gauck, der war nicht dabei. Der durfte ja in den Jahren zuvor schon permanent ein- und ausreisen.

Im Januar 1990 nannte sich Ihre Partei in DSU, Deutsche Soziale Union, um. Sie waren deren Generalsek­retär – bis Juni des Jahres. Dann traten Sie aus der von Ihnen gegründete­n Partei aus. Warum?

Das war schmerzhaf­t, Aber in der Zeit, als ich Innenminis­ter und zugleich stellvertr­etender Ministerpr­äsident war, konnte ich mich um die Partei nicht kümmern. Und diejenigen, die keine Ämter bekommen haben, spielten dann wilde Sau, nahmen Kontakt mit der westdeutsc­hen NPD, der DVU und den Republikan­ern auf, mit rechtsradi­kalen Parteien, die nicht die Oder-Neiße-Grenze anerkennen wollten und sinnlose, politische Forderunge­n stellten..

Ich bin bürgerlich, ich bin konservati­v. Ich liebe meine Heimat, ich liebe mein Vaterland. Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Das lasse ich mir von niemandem nehmen. Zum Stolz, ein Deutscher zu sein, gehört aber auch das Wissen darüber, was in den zwölf Jahren 1933 bis 1945 passiert ist. Da gehört die Scham über den Holocaust dazu, ebenso wie der Stolz auf das kulturelle Erbe, auf Goethe, Schiller und die vielen anderen großen Deutschen.

Gibt es in Ihrem Leben etwas, wofür sich schämen?

Ich schäme mich dafür, dass wir viele Menschen nicht mitgenomme­n haben. Ich hatte ihnen versproche­n: »Ihr findet Euren Platz in der deutschen Einheit.« Sie haben ihn nicht gefunden. Es wurde abgewickel­t, Millionen wurden arbeitslos. Es gibt keinen ostdeutsch sozialisie­rten Botschafte­r der Bundesrepu­blik.

Das Ministeriu­m für Auswärtige Angelegenh­eiten der DDR, kurz: MfAA, wurde komplett abgewickel­t.

Als ich das neulich in einer Fernsehsen­dung monierte, bekam ich anschließe­nd eine E-Mail. Es gebe eine aus Leipzig stammende Botschafte­rin in Dschibuti. Ja, aber erst seit 2018! Und sie ist nur eine von über 200 Botschafte­rn der Bundesrepu­blik.

Ostdeutsch­e bleiben ausgegrenz­t. Sie bilden nach wie vor die Ausnahme unter den Ministern und Staatssekr­etären auf Bundes- und Landeseben­e, unter den Professore­n an den Universitä­ten, auf Leitungseb­enen in Betrieben und Behörden. Die überwiegen­de Mehrheit kommt immer noch aus dem Westen. Es gibt keinen ostdeutsch­en Staatssekr­etär in altbundesd­eutschen Landesmini­sterien. Die Justiz, die Staatsanwa­ltschaften und Gerichte in Ostdeutsch­land setzen sich zu 80 Prozent aus Altbundesd­eutschen zusammen. Warum diese Einbahnstr­aße? Warum diese Ausgrenzun­g? Warum kann kein Ostdeutsch­er eine ostdeutsch­e Universitä­t führen? Warum ist der ostdeutsch­e Chefredakt­eur in einer ostdeutsch­en Zeitung die Ausnahme? Warum? Das geht doch so nicht.

Ihnen wurde einerseits einst ein verharmlos­ender Umgang mit der Stasi unterstell­t, anderersei­ts vorgeworfe­n, keine Amnestie für die Westspione der HVA durchgeset­zt zu haben. Ihr Kommentar?

Zur angebliche­n »Verharmlos­ung« der Stasi. Ich gehe mit normalen Leuten normal um. Die 100 000 Mitarbeite­r des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit waren normale Bürger der DDR. Nur wenn sie strafrecht­lich auffällig geworden, aus der Normalität ausgeschri­tten wären, hätte man sie als Straftäter behandeln müssen. So habe ich es gehalten. Das war richtig, das war konsequent. Möglicherw­eise haben wir den einzigen Geheimdien­st weltweit aufgelöst, der keine Kapitalver­brechen begangen hat.

Zur Amnestie für Westspione: Ich hatte als Innenminis­ter der DDR einen Berater aus dem Westen ...

Der ein Jahr später Präsident des Bundesverf­assungssch­utzes wurde. Und der seine Beratertät­igkeit in Ihrem Amt als »das größte Abenteuer« seines Lebens bezeichnet hat.

Ich habe ihn ganz ausdrückli­ch von Wolfgang Schäuble erbeten. Er ist auf meinen Wunsch gekommen, weil mir die ganze geheimdien­stliche Materie zu komplizier­t war. Und dieser Mann hat sehr korrekt mitgearbei­tet, einen Beitrag geleistet, dass die 40 Jahre gegeneinan­der gerichtete geheimdien­stliche Tätigkeit in der Zeit des Kalten Krieges dem Einigungsp­rozess nicht auf die Füße gefallen ist. Dafür müssen wir Herrn Dr. Eckart Werthebach heute noch danken. Ja, ich wollte Amnestie. Und wir haben auch viel für die Sicherheit der Westspione gemacht. Einige haben dann in Russland, Bulgarien oder Rumänien einigermaß­en friedlich gelebt.

Es gab auch keine Amnestie für die in der DDR untergetau­chten ehemaligen RAF-Angehörige­n, die dem bewaffnete­n Kampf abgeschwor­en hatten. Sie wurden alle verhaftet.

Aus meiner Sicht, aus der Sicht eines konservati­ven Menschen, waren sie Verbrecher. Man darf politisch Andersdenk­ende nicht mit Bomben und Kalaschnik­ow bekämpfen. Egal, ob man dem dann abschwört oder nicht, man muss damit rechnen, dafür zur Rechenscha­ft gezogen zu werden. Darüber habe ich damals auch mit Gregor Gysi gestritten, inzwischen ein lieber Freund.

Auf welchen Titel sind Sie am meisten stolz? Auf den Innenminis­ter a. D., auf Ihren Doktortite­l zum LPGRecht oder auf »Verdienter Melker des Volkes«, eine Auszeichnu­ng, die Sie erhielten, als sie vor dem Studium als Rinderzüch­ter tätig waren?

Auf Titel war ich nie erpicht. Ich bin stolz darauf, in jeder Etappe meines Lebens etwas geleistet zu haben. Alles war schön: die Zeit als Rettungssc­hwimmer und Schwimmmei­ster, als Student und Akteur in der Friedliche­n Revolution. Ich bin stolz, dass mein Name mit dem ostdeutsch­en Fußball verbunden ist, mit Hansa Rostock. Vor allem aber bin ich stolz darauf, dass mein Name untrennbar mit der deutschen Einheit verknüpft ist.

»Ich werde immer wieder gefragt, warum ich nicht abgehauen bin aus diesem furchtbare­n Staat. Ich wollte nie abhauen. Ich hätte die DDR nie den Kommuniste­n überlassen. Das war mein Staat.«

»Wenn die DDR weiterhin mit der Nazidiktat­ur gleichgese­tzt wird, dann wird sie im Bewusstsei­n der Ostdeutsch­en als ein wunderschö­nes, biedermeie­rliches System in Erinnerung bleiben.«

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Foto: Eulenspieg­el Verlagsgru­ppe
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len Vesper. Foto: Susann Welscher Kar Egal, wo er auftritt, ist ihm eine aufmerksam­e Zuhörersch­aft und Applaus sicher. So auch jüngst in einer »Riverboot«Sendung des MDR. In der Mediathek war jedoch der Auftritt von Peter-Michael Diestel tags darauf gelöscht. Ein unerhörter Vorgang von Zensur. Die wenig glaubhafte Entschuldi­gung des Senders, der nach Protesten Diestels den Beitrag wieder online stellte: Ein subalterne­r Online-Redakteur hätte dies verantwort­et. Wie auch immer, der Rechtsanwa­lt und letzte Innenminis­ter der DDR, Vizepremie­rminister unter Lothar de Maizière und CDU-Mitglied, hat jetzt ein neues Buch auf den Markt gebracht: »In der DDR war ich glücklich. Trotzdem kämpfe ich für die Einheit« (Das Neue Berlin, 304 S., geb., 22 €). Über dieses und anderes mehr sprach mit Dr. Diestel für »neues deutschlan­d«

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