Eine Partei, die nicht mehr weh tut
In der sächsischen LINKEN sucht man nach Ursachen für das Wahldebakel – und ringt mit dessen Folgen
Die LINKE in Sachsen hat eine herbe Wahlpleite erlitten. Die Zuversicht, dass sie sich davon erholt, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Wer sich auch mit Ende vierzig noch jugendlich fühlen will, tritt im Vogtland in die LINKE ein. »Mit 47 bin ich hier der Jungspund«, sagt Kai Grünler. Dass er 2016 von den Piraten zu den Genossen wechselte, hatte indes andere Gründe. Die Netzpartei war in Sachsens Südwesten personell enorm ausgedünnt. Man habe, sagt Grünler, »nichts mehr bewirken können«.
Jetzt erlebt der IT-Experte ein Déja-vu. Bei der Landtagswahl vor zwei Wochen brach die LINKE von 18,9 auf 10,4 Prozent ein. Im Parlament stellt sie nur noch 14 Abgeordnete, keiner davon aus dem Vogtland. Im Mai hatte die LINKE auch bei der Wahl des Kreistags und des Plauener Stadtrats herbe Verluste erlitten. Ein Büro, das die Stadt- und Kreisfraktion sowie die örtliche Landtagsabgeordnete finanzierten, wird sich wohl nicht im bisherigen Umfang halten lassen. »Wenn es nicht bald eine Lösung gibt, ist hier alles tot«, sagt Grünler.
Es war für die LINKE im Vogtland auch bisher schwer, wahrgenommen zu werden. Im Wahlkampf, den Grünler als Direktkandidat bestritt, bekam er oft den Vorwurf zu hören: »Man sieht euch ja nicht.« Die Gründe sind vielfältig. Die personelle Basis im Landkreis ist dünn. Die Landespartei, wettert Grünler, habe Ressourcen in »hippe Büros« in Großstädten gesteckt, pfiffige Ideen für die Provinz wie eine »Tante-Emma-Tour« zur Nahversorgung dagegen erst im Wahlkampf umgesetzt: »Da nahmen uns die Leute das aber nicht mehr ab.«
Die Frage, was anders hätte laufen müssen, treibt derzeit viele um in der sächsischen LINKEN. Welchen Anteil hatten Plakate, Kampagnenführung, Themensetzung? Welche Rolle spielten taktische Wähler, die für die CDU votierten, damit die AfD nicht stärkste Kraft wurde? Beispiel Leipzig: Die dortige Abgeordnete Jule Nagel rechnet vor, dass sie in ihrem Wahlkreis im Süden der Stadt zwar genug Erststimmen erhielt, um ihr Direktmandat zu verteidigen. Bei den Zweitstimmen aber lag die CDU vorn. Nagel verweist zudem auf einen gesellschaftlichen Rechtsruck, der seit Jahren anhält und die LINKE in Sachsen-Anhalt schon 2016 um 7,4 Prozent abstürzen ließ – fast so viel, wie sie jetzt in Brandenburg und Sachsen einbüßte. Dass die LINKE in Potsdam mitregierte, während sie in Dresden Daueropposition betrieb, macht die Analyse nicht leichter. Nicht nur Nagel spricht von einem ganzen »Strauß an Ursachen« – was schnelle und einfache Schuldzuweisungen verbiete.
Zumindest manche Gründe, darin besteht Einigkeit, sind hausgemacht. Die LINKE »läuft nicht mehr voran«, sagt Nagel: »Ich kann mich an kein Thema erinnern, mit dem wir bundesweit die Debatte bestimmt hätten.« Kai Grünler im Vogtland sagt, die LINKE »tut nicht mehr weh«. Wer als Wähler »Schmerz verursachen«, also Protest artikulieren und damit von der Politik wahrgenommen werden wolle, wähle jetzt AfD.
Welche Rolle lässt das für die LINKE? Das ist bis jetzt ungeklärt, sagt Bruno Rössel aus Bautzen: »Viele Wähler sehen derzeit nicht, wofür es die LINKE braucht.« Manche sagen: Sie wird benötigt als Kümmererpartei. Es ist eine Rolle, die von der LINKE-Vorgängerin PDS lange mit Erfolg wahrgenommen wurde, die aber, wie Rössel anmerkt, ihre Kehrseiten hat. Die PDS habe Sozialberatung für Arbeitslose angeboten und zugleich betont, Hartz IV müsse weg. Das Versprechen wurde nicht umgesetzt. Folge? »Die Leute sagen: Ihr habt es nicht geschafft mit eurem Kümmern«, sagt Rössel; nun sollten es eben andere versuchen.
Rössel, der 20 Jahre alt ist und sich als »Bewegungslinken« versteht, hält andere Ansätze für vielversprechender. Die Partei solle »Menschen ermutigen, selbst aktiv zu werden«, sagt er; sie solle »Protest anstacheln und mit Räumen und Ressourcen unterstützen«. Zudem müsse sie viel mehr als bisher in Betrieben und Gewerkschaften präsent sein. Rössel plädiert dafür, soziale Themen stärker in den Vordergrund zu stellen und gesellschaftliche Konflikte schärfer zuzuspitzen. Wie das gehen könne, zeige die LINKE in Berlin: mit gewagten, teils provokanten Ideen in der Mietendebatte. »Auch wir«, sagt Rössel, »sollten wieder radikalere Vorschläge machen.«
Das sieht Nagel ähnlich. Die Fraktion im sächsischen Parlament, der sie seit 2014 angehörte, habe sich zu sehr in der »Landtagslogik« verfangen: solide Gesetzentwürfe, viel Fleiß beim Verfassen von Anträgen – wovon aber zu wenig im Land ankam. Man müsse stärker selbst Themen setzen und dabei möglichst auch spritziger und frecher sein. Nach ersten Sitzungen und einer zweitägigen Klausur glaubt Nagel den Willen dazu zu erkennen. Die Schockstarre sei überwunden: »Jetzt herrscht Aufbruchstimmung.«
Inwieweit sich die Vorsätze tatsächlich umsetzen lassen, ist vorerst aber offen. Viele gut eingearbeitete Fachpolitiker in Bereichen wie Inneres, Justiz, Bildung fehlen in der neuen Fraktion. Manche wurden auf der Landesliste so weit hinten einsortiert, dass sie ohnehin keine Chance gehabt hätten. Andere büßten ihre sicher geglaubten Mandate wegen des Wahldebakels ein. Eine Arbeitsgruppe soll nun die Quadratur des Kreises versuchen: die Arbeit von weniger Abgeordneten so effizient zu gestalten, dass trotzdem mehr davon im Land wahrgenommen wird.
Ein Problem bleibt: Vielerorts gibt es keine Abgeordneten mehr, mit deren Wirken die Partei punkten könnte. Im Vogtland äußert Kai Grünler die provokante Idee, es mögen gewählte Abgeordnete aus Großstädten, die mehrere Vertreter in der Fraktion haben, auf ihre Mandate verzichten, damit solche aus nicht vertretenen Landkreisen nachrücken. Jule Nagel nennt das »Holzerei« und merkt an, Leipzigs LINKE stelle zwar drei Abgeordnete, habe aber auch 20 Prozent zum Wahlergebnis beigetragen. Zugleich ist sie zuversichtlich, dass es Lösungen für Regionen ohne Abgeordnete gibt, wozu neben dem Vogtland auch Bautzen gehört.
Bruno Rössel teilt diesen Optimismus. Vielleicht, sagt er, liege die Zukunft in mobilen Büros, mit denen man in Dörfer fährt; oder in Büros in Mittelstädten, die gemeinsam mit Sozialverbänden, Gewerkschaften und Vereinen genutzt werden. In Bautzen habe sogar die SPD schon angefragt. Die LINKE sei in Sachsen »nicht am Ende«, sagt der 20-Jährige: »Wir werden neu durchstarten.« Ob daran auch momentan Resignierte wie Kai Grünler irgendwann wieder glauben, wird sich zeigen müssen.
Die LINKE in Sachsen ist bei der Landtagswahl auf 10,4 Prozent abgestürzt. An der Basis wird seither über Gründe der Pleite und Strategien für die Zukunft gestritten. Erste Überlegungen gibt es auch in der von 27 auf 14 Abgeordnete geschrumpften Fraktion, die zudem personelle Weichen gestellt hat – und dabei zunächst auf Kontinuität setzt.
Im Vogtland wurde die Idee geäußert, gewählte Abgeordnete aus Großstädten mögen auf ihre Mandate verzichten, damit alle Regionen in der Landtagsfraktion vertreten sind.