Requiem für Globalisierer
»Ausweitung der Kampfzone« nach dem Roman von Michel Houellebecq an den Kammerspielen des Deutschen Theaters
Was ist das? Die Apokalypse im Maßstab unseres Alltags: derangierte Angestellte in kalt ausgeleuchteten Hallen, dröhnende Beats, hektisch und gleichzeitig gelangweilt hin und her hetzende Anzugträger. Die Abwesenheit von Sinn bei maximaler Lautstärke. Michel Houellebecqs Grundthese in »Ausweitung der Kampfzone«, lautet, jede unserer Lebensäußerungen werde fortwährend in Besitz genommen durch den Wirtschaftsliberalismus, also den simplen Wechsel von Kaufen und Verkaufen, je nach Marktwert – bis hin zum Sex. »Manche haben täglich Geschlechtsverkehr; andere fünf oder sechs Mal in ihrem Leben, oder überhaupt nie.«
Das Leben des Einzelnen ist nun mal ebenso ungerecht eingerichtet wie die Welt im Ganzen. Als Houellebecq, bis dahin ein weithin unbeschriebenes Blatt, mit »Ausweitung der Kampfzone« 1994 in Paris auftrat, war dies ein kulturkritisches Erdbeben: So virtuos und gleichzeitig gründlich hatte lange niemand mehr die Illusion von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gestört, sie geradezu pulverisiert. Erstaunlicherweise brauchte das Buch dann fünf Jahre, um im Wagenbach Verlag in deutscher Übersetzung zu erscheinen – und wurde dann zum Siegeszug des Autors, der bis heute nicht aufhört.
Ende der neunziger Jahre, erinnere ich mich, eroberte »Ausweitung der Kampfzone« auch sofort die Bühne (wie das Bestseller so an sich haben). Da wurde sie dann als makabre Komödie über die Verrenkungen verklemmter Büromenschen inszeniert, bei all ihren notorisch misslingenden Versuchen, am allgemeinen Glücksverspechen der Sexualität teilzuhaben. Das ist bei diesem Erstling von Houellebecq gewiss auch angelegt, dieser extrem gemischte Zustand der Bedürfnisse – »zu kotzen und gleichzeitig bekam ich einen Ständer«. Darin steckt zweifellos eine gewisse Situationskomik. Aber Houellebecqs spätere Romane bis hin zu »Möglichkeit einer Insel«, »Unterwerfung« und »Serotonin« zeigen, dass es dem Autor nicht darum ging, uns komische Geschichten über verhinderten Sex zu erzählen. Seine Analyse unserer bürgerlichen Wirklichkeit ist vernichtend und kennt nur eine Diagnose und die heißt Untergang.
Warum nimmt Ivan Panteleev in seiner Inszenierung für die Kammerspiele des Deutschen Theaters sich nun diesen scheinbar eher harmlosen Erstling Houellebecqs noch einmal vor? Er zeigt uns, dass er gar nicht harmlos ist, dass alle später entfalteten Motive bereits hier angelegt sind. Das sind vor allem: Informatik als Mittel der letztendlichen Herrschaft der künstlichen Intelligenz über ihre Erzeuger sowie die genetische Optimierung des Natürlichen bis hin zur Selbstzerstörung des Lebens.
An Handlung und Pointe hat Regisseur Ivan Panteleev gar kein Interesse. Sex kommt höchstens noch als Fußnote vor, was das offenbar anders gestimmte Publikum mehrheitlich erst verblüfft, dann verstimmt. Doch es ist eine konsequente Auslegung der Diagnose jener »Ausweitung der Kampfzone«, um die es geht. Und das meint den fortgesetzten Siegeszug des Neoliberalismus bis zur völligen Zerstörung von Umwelt, Mensch und Seele. Oder ins Bild dieser Inszenierung gebracht: Sage es niemals jemandem, wenn du vergessen hast, wo du dein Auto abgestellt hast! Ein Auto kann einem gestohlen werden, das hat Würde ebenso wie Tragik, aber wer es einfach so verliert, ist gesellschaftlich erledigt.
Panteleev behandelt dabei Houellebecqs Text so hochachtungsvoll wie einen von Heiner Müller – und das scheint mir richtig. Man braucht eigentlich nur zu stehen und ihn zu sprechen, oder auch zu schreien, mal wütend, mal verzweifelt. Die Collage aus dem etwas hochtrabend Roman genannten hundertfünfzigseitigem Text bekommt damit in ihrer düsteren Statik etwas von einem Requiem. Ein Requiem auf den modernen Menschen, jenen notorischen Globalisierer, der in Panteleevs kongenialer Houellebecq-Lesart nur ein tönender lebenssimulierender Lautsprecher ist. Was sind das für Zeiten, wo aus Philosophennamen wie Pascal oder Ockham Programmiersprachentitel geworden sind? An Informationen herrsche kein Mangel, an Meinungen ebenfalls nicht, so hören wir von der Bühne. Aber wer spricht noch von Urteilskraft? Die leerlaufende Zeitgeistmaschine, angetrieben von Aktionismus und Hysterie, mündet für Houellebecq in eine Gespenstergeschichte, in der unklar scheint, ob man schon tot ist oder noch lebt.
Panteleevs nicht geringe Regieleistung besteht nun darin, dass er hier den letzten Zuckungen einer »Transzendenz der schöpferischen Lust« nachspürt. Die Schauspieler, die man am Deutschen Theater in letzter Zeit oft lustlos und schwach erlebte, bringt der illusionslos-harte Text wieder in jenen energischen Zustand der Konzentration, der das Sprechen eines Textes erst sinnvoll macht. Überaus stark im Transparentmachen von Existenzdunkel: Samuel Finzi und Kathleen Morgeneyer. Aber auch Lisa Hrdina, Marcel Kohler und Jeremy Mockridge bringen – im Zustand heilloser Atomisierung – an Gegensätzlichkeit zusammen, was im Alltagsbewusstsein kaum noch zusammen kommt. Es ist jene nüchterne Selbstdiagnose, die bleiern auf dem mit Lebensersatzstoffen ruhiggestellten Konsumentengemüt liegt: »Das Leben kann durchaus leer und kurz zugleich sein.« Was bleibt da noch als jene Hoffnung, die sich auch wieder als Illusion entpuppen wird: »Ich habe so wenig gelebt, dass ich zur Vermutung neige, ich werde nie sterben.«
Ein schwieriger, alle naheliegenden Erwartungen enttäuschender Abend, dessen traurige Monologe jedoch eine wunderbar paradoxe Wirkung offenbaren: Sie stärken die einzelgängerische Widersätzlichkeit, antiquiert gesprochen – die Autonomie.
»Ausweitung der Kampfzone« 26.09., 2.10.13.10 Kammerspiele Deutsches Theater, Schumannstraße 13a, Berlin.