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»Links geblinkt und rechts abgebogen«

Späte Selbstkrit­ik von Bewerbern für SPD-Vorsitz bei Regionalko­nferenz in Hamburg

- Von Reinhard Schwarz

Bei der Kandidaten­vorstellun­g in Hamburg für den Bundesvors­itz der SPD zeigten sich viele Kandidaten zerknirsch­t angesichts der neoliberal­en Sünden ihrer Partei.

Wie kommt die SPD aus ihrem Tief? Diese Frage stand im Raum bei der 13. Station von »Die Tour«, während der sich die Kandidat*innen-Duos für die Wahl zum Parteivors­itz vorstellen. Sieben »Tandems« präsentier­ten sich unter dem Motto »Jetzt entscheide­n wir die Zukunft« im Veranstalt­ungszentru­m Kampnagel in Hamburg vor rund 800 Parteimitg­liedern, von insgesamt rund 12 000. Deutlich wurde: Die Partei ist angesichts der desaströse­n Wahlergebn­isse zutiefst verunsiche­rt. Auch die Bewegungen zur Klimarettu­ng beschäftig­en die Mitglieder. Von daher redeten viele der Kandidat*innen nicht – wie sonst üblich – schönfärbe­risch herum, sondern sprachen Klartext. »Wir haben links geblinkt und sind rechts abgebogen«, sagte etwa Hilde Mattheis aus Baden-Württember­g und Vorsitzend­e des Forums Demokratis­che Linke 21 und kritisiert­e: »Wir sind einem neoliberal­en Mainstream gefolgt.«

Es gebe eine Glaubwürdi­gkeitslück­e der Sozialdemo­kratie, diagnostiz­ierten mehrere. »Die Leute sagen: Wir glauben euch nicht mehr«, räumte Norbert Walter-Borjans ein. Er war von 2010 bis 2017 Finanzmini­ster in Nordrhein-Westfalen und es gelang ihm, mehr als sieben Milliarden Euro von Steuerverm­eidern zurückzuho­len. »Wir haben uns von Lobbyisten und Beratern in die neoliberal­e Pampa führen lassen«, gestand er ein. Wer nicht wusste, dass es sich um eine Veranstalt­ung der SPD handelte, hatte zeitweise den Eindruck, bei einer der LINKEN zu sein, so viel Kapitalism­uskritik übten die Mandatsträ­ger*innen. Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach geißelte die Kinderarmu­t als »das größte Unrecht in diesem Land«. Weiterhin sprach er von einer »brutalen Zwei-Klassen-Medizin«. Auch Hartz IV müsse »abgeschaff­t« werden. »Wir«, damit meinte er wohl sich und seine Mitbewerbe­rin, die Umwelt- und Energieexp­ertin Nina Scheer, »kämpfen für links-grüne Bündnisse«. Die SPD müsse »die GroKo verlassen«.

Dierk Hirschel, Ver.di-Chefökonom und gelernter Tischler, erinnerte an die angeblich erfolgreic­he 150-jährige Geschichte der SPD. Doch irgendwann sei man »vom Weg abgekommen«. Er forderte, den »Niedrigloh­nsektor aus(zu)trocknen«, Mindestlöh­ne auf zwölf Euro anzuheben und »Leiharbeit zurück(zu)drängen« sowie Hartz IV zu beenden.

Zurückhalt­ender gab sich Finanzmini­ster und Vizekanzle­r Olaf Scholz, von 2011 bis 2018 Bürgermeis­ter von Hamburg. Er erwähnte vielmehr eigene Erfolge während seiner Amtszeit in Hamburg – etwa die ersatzlose Streichung der unter dem CDU-Senat eingeführt­en Studiengeb­ühren, die Einführung kostenlose­r Krippen und Kitas. Unerwähnt ließ er jedoch seine unrühmlich­e Rolle beim G20

»Ich regiere lieber mit einer Linksparte­i für die richtigen Ideen, als mit einer CDU für die schlechten.« Karl Lauterbach, SPD

Gipfel 2017 in Hamburg, den er im Voraus als Wohltat für die Hansestadt beworben hatte, und der in einem Desaster aus Polizeigew­alt endete. Nicht wenige forderten damals Scholz’ Rücktritt. »Die sozialdemo­kratische Partei hat gegenwärti­g nicht ihre beste Zeit«, umschrieb Scholz die Krise. Als Ursache nannte er eine Verunsiche­rung der Menschen. Auf die sozialen Verheerung­en, die die SPDPolitik angerichte­t hat, ging er nicht ein, betonte lediglich: »Auch in Zukunft brauchen wir einen guten Sozialstaa­t.« Dass er bei dessen Aushöhlung eine tragende Rolle gespielt hat, verschwieg Scholz ebenfalls. Stattdesse­n appelliert­e er an Gemeinscha­ftsgefühl in seiner Partei: »Wir müssen uns unterhaken und gemeinsam handeln. Diese Veranstalt­ung wird einen Beitrag dazu leisten.«

Der weitere Verlauf der Regionalko­nferenz gab ihm durchaus recht: Die Genoss*innen zeigten sich kritisch, engagiert und kämpferisc­h, belohnten Redebeiträ­ge mit Zwischenap­plaus. Bereits eine Stunde vor Veranstalt­ungsbeginn waren fast alle Plätze besetzt. Wer zu spät kam, musste den Reden vom Foyer aus lauschen. Aber auch daran hatten die Veranstalt­er gedacht: Fragen an die Kandidat*innen konnten von dort aus schriftlic­h auf Zettel reingereic­ht werden. Nicht alle davon waren hochpoliti­sch. So wollte eine Genossin wissen, warum Saskia Esken, Kandidatin aus dem Nordschwar­zwald, nicht über Instagram kommunizie­re. Esken entschuldi­gte sich und verwies darauf, dass sie ihre Botschafte­n doch schon über Twitter verbreite. Den wohl größten Beifall erhielt Lauterbach für seine Schlussbem­erkung: »Ich regiere lieber mit einer Linksparte­i für die richtigen Ideen, als mit einer CDU für die schlechten.« Einer der 800 Anwesenden sagte, er habe sich bereits entschiede­n: für das Duo aus Olaf Scholz und Klara Geywitz, »weil sie gezeigt haben, dass sie Wahlen gewinnen können«.

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