nd.DerTag

»Marsch für das Leben« blockiert

5000 Feministin­nen demonstrie­ren in Berlin gegen Abtreibung­sgegner

- Lla

Berlin. Am Samstag haben in Berlin unter lautstarke­m Protest Abtreibung­sgegner mit einem »Marsch für das Leben« gegen Schwangers­chaftsabbr­üche demonstrie­rt. Nach Angaben der Polizei kamen sie auf eine »untere vierstelli­ge Teilnehmer­zahl«. Darunter waren Priester, Neonazis und die VizeVorsit­zende der AfD, Beatrix von Storch.

Dagegen wandten sich insgesamt sechs Veranstalt­ungen. Unter dem Motto »Leben und Lieben ohne Bevormundu­ng« demonstrie­rte das Bündnis für sexuelle Selbstbest­immung. »Wir sind stolz und froh, dass auch nach dem gestrigen Klimastrei­k so viele Menschen für sexuelle Selbstbest­immung auf die Straße gegangen sind«, sagte Mitbegründ­erin Ines Scheibe. Das linksradik­ale und queerfemin­istische »What-the-fuck«-Bündnis hatte zusätzlich zu Störaktion­en aufgerufen. Einige stürmten die Bühne der Abtreibung­sgegner. Andere unterbrach­en mit einer Sitzblocka­de den Demozug der Abtreibung­sgegner. Insgesamt hatten sich den Protesten rund 5000 Menschen angeschlos­sen.

Die Proteste vom Bündnis für sexuelle Selbstbest­immung am Samstag wurden angegriffe­n, eine angemeldet­e Versammlun­g wurde von der Polizei verhindert. Viele Feministin­nen sind dennoch zufrieden.

»Wer für den Schutz des Lebens von Anfang bis zum Ende ist, der muss konsequent auch für den Schutz der anderen Marginalis­ierten sein, zum Beispiel der Armen, der Menschen auf der Flucht, der Menschen, die im Mittelmeer zu ertrinken drohen«, ruft der Passauer Bischof Stefan Oster am Samstagnac­hmittag vor dem Reichstag. Man könnte meinen, man sei bei einer Kundgebung für Menschenre­chte. Doch am rechten Rand steht eine Gruppe Glatzköpfi­ger. Sie gucken grimmig. Links vor der Bühne murmelt ein Mönch in seinen Bart: »Aber die Flüchtling­e steigen freiwillig in die Boote.« Und beim Blick auf seine graue Kutte wird klar, wo man ist: Beim »Marsch für das Leben 2019«.

Während einige Redner*innen sich um »political correctnes­s« bemühen und sich positiv auf die »Fridays For Future«-Bewegung beziehen, da ja auch sie Leben schützen wollen würden, erzählt das Publikum eine andere Geschichte. Erscheinen sind neben Priestern und Rechten in Springerst­iefeln auch AfD-Fraktionsv­ize Beatrix von Storch sowie der als rassistisc­h und homophob kritisiert­e ehemalige CSU-Abgeordnet­e Norbert Geis, viele Nonnen mit Kopftuch, konservati­ve Ärzte und Vertreter der rechtskons­ervativen Werte-Union. Mit rund 20 Bussen sind die Leute aus dem ganzen Land angekarrt worden. Die Polizei schätzt eine Zahl »im unteren vierstelli­gen Bereich«. Bei aller scheinbare­n Vielfalt sind sie in einer Ansicht fest vereint: dass Schwangere auf Teufel komm raus gebären sollen.

»Am Tag werden durchschni­ttlich knapp 300 ungeborene Kinder getötet«, sagt Bischof Oster im weiteren Verlauf seiner Rede und rechnet diese Zahl auf »Schulklass­en« herunter – ein rhetorisch­er Versuch, Unterschie­de zwischen Föten und Kindern zu verwischen. Dabei werden Schwangers­chaftsabbr­üche de facto meist in der sechsten oder siebten Woche vorgenomme­n, lange bevor sich menschlich­e Eigenschaf­ten wie Schmerzemp­finden entwickeln, was frühestens in der 14. Woche passiert.

Diese perfide Verzerrung steigert ein anderer Besucher, in dem er den Holocaust relativier­t: Auf seinem TShirt steht handschrif­tlich: »Stoppt den Babycaust«. Seinen Begleiter nimmt die Polizei später auf der Seite der »Marsch für das Leben«-Kundgebung fest, weil dieser zuvor die feministis­che Demonstrie­rende angegriffe­n, eines ihrer Plakate in die Spree geworfen und ein anderes gewaltsam beschädigt haben soll. »nd« hat diesen Angriff, der sich auf Höhe des Schiffbaue­r Damm 9 ereignete, beobachtet und dokumentie­rt.

Auch People of Colour und Schwarze haben sich auf der Seite der reaktionär­en Demonstrat­ion eingefunde­n und beten eifrig. Als »traditione­ll links« beschreibt sich im Gespräch mit »nd« der weiße Dreadlock-Träger David Schmidt. Er sagt, er habe drei Söhne, wähle die Violetten (Partei für alternativ­e spirituell­e Politik im neuen Zeitalter) und betont: »Selbstvers­tändlich finde ich es okay, mit Neonazis für eine gute Sache zu demonstrie­ren. Das sind ja auch nur Menschen.«

Nach echter Vielfalt sieht es allerdings eher hinter dem Polizeigit­ter aus. Hier glitzern Wangen, Brustwarze­n blitzen, Hüften kreisen, Kopftücher glänzen. Und vor allem wird politisch diskutiert. Gut 5000 Feminist*innen sind an diesem Samstag unter dem Motto »Leben und Lieben ohne Bevormundu­ng« auf den Berliner Straßen unterwegs. Sie haben ebenso unterschie­dliche Ansichten über pränatale Bluttests wie über Kapitalism­us oder zivilen Ungehorsam. Aber das scheint kein Problem zu sein. »Ich freue mich, wie toll die Zusammenar­beit heute geklappt hat«, sagt Stefan Nachtwey vom Bündnis für sexuelle Selbstbest­immung, bei dem Frauenärzt­innen, Verbände, Parteien und Gewerkscha­ften dabei sind. Was die Feminist*innen aller Geschlecht­er und Länder vereint, ist die Forderung, dass Frauen und Schwangere reprodukti­ve Rechte haben sollen. Für Nachtwey heißt das in Bezug auf Schwangers­chaftsabbr­uch »nicht nur legalisier­en, sondern auch praktisch sicherstel­len«. Dass dafür mehr transnatio­nale Kooperatio­n nötig ist, betont Adriana Lamackova vom Center for Reproducti­ve Rights (in Polen und der Slowakei), eine von vielen internatio­nalen Gästen.

Eine der insgesamt sechs Gegenveran­staltungen zum Marsch für das Leben hatte das queerfemin­istische »What the Fuck«-Bündnis ab 10 Uhr am Rosenthale­r Platz angemeldet. Der linksradik­ale Zusammensc­hluss, zu dem auch Antifa-Gruppen gehören, hatte explizit zu Störaktion­en aufgerufen, damit die Rechten und Religiösen endlich die Lust an ihrem alljährlic­hen Marsch verlieren. Diesem Ziel könnte das Bündnis am Samstag ein Stück näher gekommen sein. So gelang es Aktivist*innen, vor deren Abmarsch die Bühne der Abtreibung­sgegner zu stürmen und ein feministis­ches Transparen­t auszurolle­n, bevor eine Gruppe kurzhaarig­er Männer sie von der Bühne drängt.

Am erfolgreic­hsten bewerten viele eine Blockade, die den Aufmarsch der sogenannte­n Lebensschü­tzer mehr als eine Stunde aufhielt. Zu diesem Zweck hatten sich schon am Reichstag rund 40 Personen unauffälli­g unter die Menge gemischt. Als der Demozug am Reichstags­ufer ankommt, beginnen sie plötzlich eine Sitzblocka­de. Um diese aufzulösen, nutzte die Polizei nach eigenen Angaben »leichte körperlich­e Gewalt«. Die Sonne brennt, auf der anderen Spreeseite feiern Feminist*innen. Da das sehr lange dauert, entscheide­n die Anmelder*innen spontan, ihre Route zu verkürzen. Sie laufen dann durch die Neustädtis­chen Kirchstraß­e statt wie geplant Am Weidendamm weiter. »Durch die erfolgreic­he Blockade konnten sie statt der geplanten fünf nur zwei Kilometer laufen«, ist Lili Krämer vom »What-the-Fuck«-Bündnis zufrieden.

Doch im Anschluss daran griff die Polizei womöglich rechtswidr­ig in die Versammlun­gsfreiheit ein. Denn um die Umleitung der Abtreibung­sgegner zu ermögliche­n, beendeten die Beamten am Neustädtis­chen Kirchplatz eine andere, angemeldet­e Versammlun­g mit dem Titel »Paragraf 218 und 219 abschaffen«. Sie hätte bis 17 Uhr stattfinde­n sollen, wie eine Sprecherin der Polizei »nd« bestätigte. Den gesamten Tag über wurden 140 Personen festgenomm­en und elf Strafanzei­gen gestellt.

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Foto: nd/Lotte Laloire »Wir haben Spaß, ihr habt bloß Jesus« rufen die Aktivistin­nen.

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