Keine Ausnahme ohne Regel
Gerichtsentscheid: Hamburger Airport darf Lärmschutzvorschrift weiter großzügig auslegen
Der Hamburger Flughafen darf Start- und Landebahnen nachts weiter je nach Bedarf nutzen. Anwohner scheitern mit einer Klage.
Fluglärmgegner stellen die Betriebserlaubnis des Hamburger Flughafens in Frage. Sie fordern von der Stadt ein neues Planfeststellungsverfahren, um die Anwohner zu schützen. Das Hamburgische Oberverwaltungsgericht hat jedoch eine Klage gegen die Start- und Landepraxis in Hamburg-Fuhlsbüttel abgewiesen. »Jetzt ist der Bürgermeister aufgerufen, die notwendigen Schutzbestimmungen für die mehr als 250 000 von Fluglärm betroffenen Bürgerinnen und Bürger wiederherzustellen«, erklärte Martin Mosel vom Dachverband der Bürgerinitiativen gegen Fluglärm Hamburg (BIG).
Zwei Bewohner aus den Stadtteilen Niendorf und Blankenese hatten vor Gericht gefordert, dass der Helmut-Schmidt-Airport seine Bahnbenutzungsregelungen als Teil der Betriebsgenehmigung stärker in ihrem Sinne anwendet. Der im Norden der Stadt gelegene Flughafen hat zwei Start- und Landebahnen, die nicht parallel angeordnet sind, sondern kreuzweise im 90-Grad-Winkel zueinander. Den Regelungen zufolge soll so gestartet und gelandet werden, dass der meiste Fluglärm in den dünner besiedelten holsteinischen Randgemeinden im Norden entsteht. Dagegen werde jedoch ständig verstoßen, monierten die Kläger.
Tatsächlich fanden Nachtlandungen im vergangenen Jahr zu 56 Prozent und 2017 sogar zu 69 Prozent auf der »falschen« Bahn statt, wie in der mündlichen Verhandlung am Mittwoch festgestellt wurde. Zwar herrscht in Hamburg grundsätzlich ein Nachtflugverbot zwischen 23 und 6 Uhr, doch aufgrund von Verspätungen endet der Betrieb selten vor Mitternacht. »Von 22 Uhr bis Mitternacht wird im Zwei-Minuten-Takt gelandet, dann bleiben nur noch sechs Stunden Nacht«, berichtete einer der Kläger. Er forderte, dass zukünftig mindestens 50 Prozent der Starts und Landungen über den holsteinischen Norden durchgeführt werden.
Die zuständige Verkehrsbehörde und die Deutsche Flugsicherung verwiesen darauf, dass die bestehenden Regelungen viele Ausnahmefälle zuließen. Neben den häufig wechselnden Wind- und Wetterverhältnissen spiele auch die allgemeine Verkehrslage eine wichtige Rolle; gehäufte
Zwar herrscht in Hamburg grundsätzlich ein Nachtflugverbot zwischen 23 und 6 Uhr, doch aufgrund von Verspätungen endet der Betrieb selten vor Mitternacht.
Verspätungen würden die Sicherheit des Flugverkehrs nachhaltig beeinträchtigen. Insbesondere die »sichere, geordnete und flüssige Abwicklung des Luftverkehrs« als Aufgabe der Flugsicherung erfordere die Flexibilität, von der Nord-Norm abweichen zu können. Ein »quantitatives Regel-Ausnahme-Verhältnis« sei in den Regelungen nicht vorgesehen, erklärte ein Vertreter der Flugsicherung: »Die Ausnahme kann schon relativ häufig auftauchen, und das tut sie auch.«
So wurden von den Parteien die Feinheiten von Boden-, Höhen-, Rücken- und Seitenwind diskutiert. Das fünfköpfige Gericht teilte schließlich
die Rechtsauffassung von Stadt und Flugsicherung. Die Bahnbenutzungsregelungen seien nur eine »Optimierungsregel für den Flugbetrieb«, die keinen individuellen Rechtsschutz für von Fluglärm Betroffene hervorbringe: »Die Regel heißt: Wir wollen ein bestimmtes Ziel anstreben.«
»Wenn ich die Auslegung der Regelung den Anwendern überlasse, dann bietet sie keinen Schutz mehr«, kritisierte Klägeranwalt Karsten Sommer. Auch René Schwarz von der Bürgerinitiative für Fluglärmschutz BAW Stormarn, der regelmäßig die Daten des nichtamtlichen Deutschen Fluglärmdiensts abruft, sieht das Urteil kritisch: »Der Südosten wird nahezu fluglärmfrei gehalten. Hamburg versteht es sehr gut, Teile der Stadt vor Belastungen zu schützen.«
Eine Revision wurde vom OVG nicht zugelassen. Den Klägern bleibt somit einzig eine Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht. »Die Einhaltung der Bahnbenutzungsregelungen ist zur Ausnahme geworden«, stellte BIGSprecher Mosel fest: »Vor diesem Missverhältnis von Regel und Ausnahme verschließt das Gericht die Augen und erteilt damit dem Betreiber einen Freibrief zur noch weitergehenden Missachtung der Schutzregeln.« Damit sei möglicherweise auch der Planfeststellungsbeschluss von 1998 für den von täglich rund 47 000 Passagieren genutzten Flughafen obsolet.
Die Bürgerinitiativen wollen Fluglärm nun zum Thema bei der im Februar 2020 anstehenden Bürgerschaftswahl machen. »Wir sehen den rot-grünen Senat in der Verantwortung«, erklärte Mosel: »Hamburg entwickelt seit Jahrzehnten einen überdimensionierten Großflughafen inmitten der Stadt und vernachlässigt gleichzeitig den Schutz seiner Bevölkerung vor den steigenden Belastungen.«