Scheingefechte am Herzmuskel
Eine Katheteruntersuchung der Herzkranzgefäße ist nicht für alle Patienten zwingend
Meist reicht ein bildgebendes Verfahren aus, um zu überprüfen, ob der Herzmuskel in Ruhe oder Belastung ausreichend durchblutet ist. Der Normalfall ist aber immer noch die Katheteruntersuchung.
Luftnot, Druckgefühl oder Schmerzen in der Brust können auf Engstellen in den Herzkranzgefäßen hinweisen. Schnell landen Patienten mit diesen Symptomen in einem Herzkatheterlabor. Die Untersuchung erfolgt mit Hilfe eines dünnen Plastikschlauches, der über ein Blutgefäß bis zum Herzen vorgeschoben wird. Ein Kontrastmittel wird in die Herzkranzarterien gespritzt, beim gleichzeitigen Röntgen können Verengungen erkannt werden. Ein Stent, ein kleiner Metalldrahtkäfig, könnte dann eingesetzt werden, um zu verhindern, dass sich das Gefäß erneut verschließt.
Allerdings braucht nicht jeder Patient eine derartige Untersuchung, und auch ein Stent ist nicht immer nötig. Um zu klären, ob der Herzmuskel in Gefahr ist, würde auch eine Szintigrafie ausreichen. Bei diesem bildgebenden Verfahren wird ebenfalls ein Kontrastmittel gespritzt, das radioaktiv markiert ist und sich im Zielorgan anreichert. Eine Gammakamera erfasst die abgegebene Strahlung. Diese Standarduntersuchung ist in höchstens einer halben Stunde abgeschlossen – und wird in Deutschland zu selten durchgeführt. Diese Meinung vertritt auch der Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner, wie kürzlich auf der Jahrestagung in Berlin deutlich wurde.
Die Koronare Herzkrankheit (KHK) gehört in Deutschland zu den Haupttodesursachen – 36 Prozent der Todesfälle 2017 waren darauf zurückzuführen. Gut ein Drittel davon war Folge eines akuten Herzinfarktes. Die übrigen Todesfälle sind einer chronischen KHK zuzuschreiben.
Ausgelöst wird diese Herzkrankheit durch Veränderungen der Herzkranzgefäße. Diese führen zu einer zunehmenden Verengung der betroffenen Arterien, die man als Koronarstenose bezeichnet. Bei einem Herzinfarkt kann das Einsetzen eines Stents mittels Katheter Leben retten, wenn die Behandlung sofort erfolgt.
Bei der chronischen KHK-Variante bleibt jedoch Zeit zu prüfen, wie stark der Herzmuskel gefährdet ist. Dafür wird ein Stresstest gemacht. Viele ältere Menschen kennen das Belastungs-EKG: Fahrrad-Ergometer bis zur Erschöpfung fahren, wobei gleichzeitig über Elektroden auf der Haut die Herzaktivität aufgezeichnet wird. Doch für die Überprüfung des Sauerstoffversorgung des Herzmuskels wird nach europäischen Leitlinien das Belastungs-EKG nicht mehr empfohlen, wenn bildgebende Verfahren zur Verfügung stehen. Auch das Belastungs-Echo, bei dem die Herzaktion im Ultraschall beurteilt wird, kommt heute seltener zum Einsatz.
Die Myokard-Szintigrafie ist für die Herzdiagnostik Kassenleistung. Sie kann bei der Entscheidung helfen, ob der Patient auch noch eine Katheteruntersuchung braucht. Der Münchner Kardiologe Sigmund Silber erklärt, dass er mit einer Szintigrafie mindestens 70 Prozent der fraglichen Patienten eine Katheteruntersuchung ersparen kann. Es gehe darum, das von einer Minderdurchblutung betroffene Areal in der Herzwand zu erfassen. Mit einer Szintigrafie sei das schnell und unkompliziert möglich, erklärt Silber.
Der Herzspezialist mit einem Fachkundenachweis für Nuklearkardiologie bietet in seiner Praxis durchaus auch Katheteruntersuchungen und das Einbringen von Stents an. Er hält es jedoch für kein gutes Zeichen, dass Deutschland Europameister bei der Zahl der eingesetzten Stents ist.
2016 erhielten 322 073 Patienten in Deutschland einen Stent, 21 Prozent mehr als im Jahr 2010. Laut Daten des Statistischen Bundesamts stieg die Zahl der medikamentenbeschichteten Stents von 2016 auf 2017 um weitere fünf Prozent. Dagegen liegt Deutschland bei der Sterblichkeit aufgrund von Herzkrankheiten europaweit erst an 15. Stelle. »Frankreich macht nur halb so viele Stents, hat aber die niedrigste Sterblichkeit«, merkt Silber an.
Weltweit ist die Myokard-Szintigrafie das am häufigsten eingesetzte bildgebende Verfahren, um die Durchblutungssituation am Herzen zu untersuchen. Kardiologe Silber, der selbst einige Zeit in den USA tätig war, sieht Unterschiede in der medizinischen Kultur: »In den USA ist die Kardiologie eher auf die Ischämie orientiert, in Deutschland auf die Stenosen.« Die Ischämie meint die Minderdurchblutung eines Gewebes, die Stenose die Verstopfung eines versorgenden Blutgefäßes. Daraus folgt dann auch die Fokussierung auf Katheter und Stents hierzulande. Silber hält ebenso den Druck der Verwaltungen auf die Klinikärzte für einen Einflussfaktor, wobei es um die möglichen Gewinne kardiologischer Abteilungen geht.
Schon länger bekannt ist , dass das Einsetzen eines Stents Herzpatienten keinen Überlebensvorteil bringt, jedenfalls nicht bei chronischer KHK. Ein Stent klinge für Patienten zunächst sehr einleuchtend, sagt auch Silber. »Da ist etwas verstopft und wird wieder freigelegt.« Kurzfristig wirkt ein Stent also wie ein gutes Placebo.
Ein Kritiker der Anwendung von Herzkathetern oder Stents ist auch der Allgemeinmediziner Knut Sroka aus Hamburg. In seinem Sachbuch zum Herzinfarkt weist er darauf hin, dass der Herzmuskel über ein wirkungsvolles Sicherungssystem zum Schutz vor Durchblutungsstörungen verfügt. Das sind die Umgehungsgefäße, die sich dann bilden, wenn sich ein Kranzgefäß verschließt. Auf diesem Wege wird der Herzmuskel weiter durchblutet. Die Weitung der Gefäße, das Setzen von Stents oder die Umgehung der Verschlüsse mit operativ eingefügten Bypässen hält er für Scheingefechte.
Der Hamburger Arzt erläutert zudem die Schadensbilanz von Katheter und Stent. Nach einer AOK-Statistik von 2013 gab es bei jedem sechsten therapeutischen Herzkatheter eine Komplikation oder einen Folgeeingriff. Bei 7,2 Prozent der insgesamt 30 000 Patienten, die einem Katheter unterzogen wurden, traten größere Blutverluste, Thrombosen in den Beinvenen, akutes Nierenversagen oder Verletzungen der Gefäßwand auf. Innerhalb von 30 Tagen nach einem Kathetereingriff mit weitendem Ballon oder Stent verstarben 0,7 Prozent der Patienten. In dieser Statistik fehlten noch jene halbe Million Patienten, bei denen der Katheter aus diagnostischen Gründen durchgeführt wurde. Bei einem Prozent der Patienten werden durch einen Katheter Schlaganfälle ausgelöst. Sroka zählt eine ganze Reihe Studien mit ähnlichen Ergebnissen auf. Er fügt aber hinzu, was selbst aus einem schadensfreien Katheter folgt: Die Patienten müssen auf Dauer teils schlecht verträgliche Medikamente schlucken, häufig folgten weitere Eingriffe.
Hinzu kommen die volkswirtschaftlichen Kosten: Für Krankenhäuser sind Herzkatheter und Stents bei Patienten mit chronischen Herzkrankheiten gut planbare Eingriffe. Sie bekommen für den Einbau eines einzigen Stents laut AOK-Bundesverband 3182 Euro von den Krankenkassen. Ist der Eingriff kompliziert, sogar 4135 Euro. Bei mehreren 100 000 Eingriffen dieser Art im Jahr geht es schnell um Milliarden. Summen, die angesichts zweifelhaften Nutzens an anderen Stellen im Gesundheitssystem sicherlich besser angelegt wären.
Schon länger bekannt ist zudem, dass das Einsetzen eines Stents Herzpatienten keinen Überlebensvorteil bringt.
Knut Sroka: Herzinfarkt. Ein Medizinskandal. VAK Verlags GmbH, Kirchzarten, 2019, 224 S. br., 20 Euro.