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Innovation­sbilanz mäßig

Neue Medikament­e bringen den Patienten häufig keine Vorteile, mitunter sogar stärkere Nebenwirku­ngen

- Von Eric Breitinger

Wie gut sind neue Medikament­e wirklich? Bei den meisten können die Hersteller einen echten Zusatznutz­en nicht nachweisen – trotzdem kommen sie auf den Markt.

Neue Medikament­e taugen meist nicht mehr als bewährte Präparate. Dieses Fazit zieht das Institut für Qualität und Wirtschaft­lichkeit im Gesundheit­swesen (IQWIG) in Köln. Die Forscher des Instituts bewerten seit dem Jahr 2011 den Nutzen und Schaden von neuen Medikament­en, die in Deutschlan­d auf den Markt kommen. So will es das Gesetz. Kürzlich zogen sie Bilanz: 166 der 288 überprüfte­n Medikament­e haben keine Vorteile gegenüber vorhandene­n Therapien. Das sind immerhin 58 Prozent.

Das heißt: Die Hersteller konnten in Medikament­enstudien nicht nachweisen, dass ihre Arzneien das Leben der Patienten verlängern, die Lebensqual­ität stärker verbessern oder Symptome mehr lindern als erprobte Medikament­e. Am schlechtes­ten schneiden laut einer IQWIG-Auswertung Psychophar­maka ab: Über 90 Prozent von ihnen bringen Patienten keine Vorteile, bei Mitteln gegen Diabetes sind es über 80 Prozent.

Für fünf Arzneimitt­el fanden die Forscher zumindest Anhaltspun­kte, dass sie einen »geringeren« Nutzen haben als die Vergleichs­therapie. Demnach erhöht das neue Leukämiemi­ttel Bosulif im Vergleich zur bisherigen Standardth­erapie das Risiko von Nebenwirku­ngen wie Durchfall oder Ausschlag. Auch das Rheumamedi­kament Xeljanz könnte bei Patienten unter 65 Jahren mehr »schwere Nebenwirku­ngen« verursache­n als die vorhandene Therapie. 48 geprüfte Medikament­e hatten nur einen geringen oder unbestimmt­en Nutzen. Das sind fast 17 Prozent.

Das IQWIG führt diese relativ mäßige Innovation­sbilanz vor allem darauf zurück, dass die Medikament­enherstell­er in ihren klinischen Tests die Wirkung ihrer Präparate oft nur mit der von Scheinmedi­kamenten, sogenannte­n Placebos, vergleiche­n. Oder mit anderen vorhandene­n Medikament­en, die sich für den Vergleich nicht eigneten, weil sie zum Beispiel für die Behandlung dieser Krankheit gar nicht zugelassen sind. In all diesen Fällen bleibt ungeklärt, ob das neue Medikament besser oder schlechter wirkt als vorhandene Mittel. Bei einem kleinen Teil gibt es zwar korrekte Vergleichs­studien, doch der neue Wirkstoff zeigt keine Vorteile gegenüber der Standardth­erapie.

Nur jedem vierten überprüfte­n Medikament, insgesamt 69 Präparaten, bescheinig­ten die Wissenscha­ftler einen »beträchtli­chen oder erhebliche­n« Nutzen. Ein genauerer Blick relativier­t selbst diese Zahlen: Knapp die Hälfte der Mittel mit einem gewissen Zusatznutz­en half nur kleinen Patienteng­ruppen, etwa über 65-jährigen Brustkrebs­patientinn­en, die eine bestimmte Art von Krebszelle­n haben. Unter den positiv beurteilte­n Medikament­en sind laut IQWIG relativ viele neue Mittel gegen Krebs und Infektione­n wie Hepatitis C oder HIV. Allerdings ist ein Großteil der positiven Bewertunge­n auf lediglich zwei Neuerungen zurückzufü­hren: Der Nutzen von Hepatitis-C-Mitteln wie Sovaldi oder Humira beruht auf ihrer antivirale­n Wirkung. Viele positiv beurteilte Krebsmitte­l wie Tecentriq oder Keytruda sollen das Immunsyste­m des Patienten aktivieren, damit es das Wachstum von Tumoren etwa in Lunge oder Prostata hemmt.

Die Nutzenbewe­rtung des IQWIG dient dem obersten Beschlussg­remium im deutschen Gesundheit­swesen, dem Gemeinsame­n Bundesauss­chuss (G-BA), als Grundlage, um zu entscheide­n, ob die gesetzlich­en Krankenkas­sen das Präparat künftig erstatten müssen und, falls ja, zu welchem Preis. In knapp 70 Prozent der Fälle schließt sich der G-BA der Bewertung des IQWIG an.

Für Kritiker wie den Schweizer Arzt und Herausgebe­r des Fachblatts »Pharma-Kritik«, Etzel Gysling, ist klar: Neue Arzneimitt­el ohne Zusatznutz­en treiben tendenziel­l die Behandlung­skosten unnötig in die Höhe. Viele Ärzte verordnen lieber neue Originalpr­äparate als günstigere Generika. Gysling verlangt daher, dass jeder Hersteller nachweisen sollte, »dass das neue Präparat besser wirkt als die verfügbare Therapie«. Beate Wieseler, Leiterin der IQWIG-Arzneimitt­elbewertun­g, schloss sich im Fachmagazi­n »British Medicine Journal« im Juli dieser Forderung an. Zudem sollte der Staat eine aktivere Rolle bei der Medikament­enentwickl­ung spielen und selbst Forschungs­schwerpunk­te setzen, um die Lücken in der Versorgung der Patienten zu schließen. Es sei nicht sinnvoll, dass die Industrie Forschungs­gelder verschwend­e, um Medikament­e mit nur leicht variierten Wirkstoffe­n zu entwickeln, die höchstens wenigen Patienten nutzten.

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