Innovationsbilanz mäßig
Neue Medikamente bringen den Patienten häufig keine Vorteile, mitunter sogar stärkere Nebenwirkungen
Wie gut sind neue Medikamente wirklich? Bei den meisten können die Hersteller einen echten Zusatznutzen nicht nachweisen – trotzdem kommen sie auf den Markt.
Neue Medikamente taugen meist nicht mehr als bewährte Präparate. Dieses Fazit zieht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) in Köln. Die Forscher des Instituts bewerten seit dem Jahr 2011 den Nutzen und Schaden von neuen Medikamenten, die in Deutschland auf den Markt kommen. So will es das Gesetz. Kürzlich zogen sie Bilanz: 166 der 288 überprüften Medikamente haben keine Vorteile gegenüber vorhandenen Therapien. Das sind immerhin 58 Prozent.
Das heißt: Die Hersteller konnten in Medikamentenstudien nicht nachweisen, dass ihre Arzneien das Leben der Patienten verlängern, die Lebensqualität stärker verbessern oder Symptome mehr lindern als erprobte Medikamente. Am schlechtesten schneiden laut einer IQWIG-Auswertung Psychopharmaka ab: Über 90 Prozent von ihnen bringen Patienten keine Vorteile, bei Mitteln gegen Diabetes sind es über 80 Prozent.
Für fünf Arzneimittel fanden die Forscher zumindest Anhaltspunkte, dass sie einen »geringeren« Nutzen haben als die Vergleichstherapie. Demnach erhöht das neue Leukämiemittel Bosulif im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie das Risiko von Nebenwirkungen wie Durchfall oder Ausschlag. Auch das Rheumamedikament Xeljanz könnte bei Patienten unter 65 Jahren mehr »schwere Nebenwirkungen« verursachen als die vorhandene Therapie. 48 geprüfte Medikamente hatten nur einen geringen oder unbestimmten Nutzen. Das sind fast 17 Prozent.
Das IQWIG führt diese relativ mäßige Innovationsbilanz vor allem darauf zurück, dass die Medikamentenhersteller in ihren klinischen Tests die Wirkung ihrer Präparate oft nur mit der von Scheinmedikamenten, sogenannten Placebos, vergleichen. Oder mit anderen vorhandenen Medikamenten, die sich für den Vergleich nicht eigneten, weil sie zum Beispiel für die Behandlung dieser Krankheit gar nicht zugelassen sind. In all diesen Fällen bleibt ungeklärt, ob das neue Medikament besser oder schlechter wirkt als vorhandene Mittel. Bei einem kleinen Teil gibt es zwar korrekte Vergleichsstudien, doch der neue Wirkstoff zeigt keine Vorteile gegenüber der Standardtherapie.
Nur jedem vierten überprüften Medikament, insgesamt 69 Präparaten, bescheinigten die Wissenschaftler einen »beträchtlichen oder erheblichen« Nutzen. Ein genauerer Blick relativiert selbst diese Zahlen: Knapp die Hälfte der Mittel mit einem gewissen Zusatznutzen half nur kleinen Patientengruppen, etwa über 65-jährigen Brustkrebspatientinnen, die eine bestimmte Art von Krebszellen haben. Unter den positiv beurteilten Medikamenten sind laut IQWIG relativ viele neue Mittel gegen Krebs und Infektionen wie Hepatitis C oder HIV. Allerdings ist ein Großteil der positiven Bewertungen auf lediglich zwei Neuerungen zurückzuführen: Der Nutzen von Hepatitis-C-Mitteln wie Sovaldi oder Humira beruht auf ihrer antiviralen Wirkung. Viele positiv beurteilte Krebsmittel wie Tecentriq oder Keytruda sollen das Immunsystem des Patienten aktivieren, damit es das Wachstum von Tumoren etwa in Lunge oder Prostata hemmt.
Die Nutzenbewertung des IQWIG dient dem obersten Beschlussgremium im deutschen Gesundheitswesen, dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), als Grundlage, um zu entscheiden, ob die gesetzlichen Krankenkassen das Präparat künftig erstatten müssen und, falls ja, zu welchem Preis. In knapp 70 Prozent der Fälle schließt sich der G-BA der Bewertung des IQWIG an.
Für Kritiker wie den Schweizer Arzt und Herausgeber des Fachblatts »Pharma-Kritik«, Etzel Gysling, ist klar: Neue Arzneimittel ohne Zusatznutzen treiben tendenziell die Behandlungskosten unnötig in die Höhe. Viele Ärzte verordnen lieber neue Originalpräparate als günstigere Generika. Gysling verlangt daher, dass jeder Hersteller nachweisen sollte, »dass das neue Präparat besser wirkt als die verfügbare Therapie«. Beate Wieseler, Leiterin der IQWIG-Arzneimittelbewertung, schloss sich im Fachmagazin »British Medicine Journal« im Juli dieser Forderung an. Zudem sollte der Staat eine aktivere Rolle bei der Medikamentenentwicklung spielen und selbst Forschungsschwerpunkte setzen, um die Lücken in der Versorgung der Patienten zu schließen. Es sei nicht sinnvoll, dass die Industrie Forschungsgelder verschwende, um Medikamente mit nur leicht variierten Wirkstoffen zu entwickeln, die höchstens wenigen Patienten nutzten.