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Bachs Märchen

»Wolgakinde­r« von Gusel Jachina ist ein mitreißend­er Roman über die frühere autonome deutsche Sowjetrepu­blik

- Von Irmtraud Gutschke

Großes Kino« – so werden im heutigen Literaturb­etrieb gern Romane angepriese­n, die Leser in die Lektüre hineinzieh­en, weil sie so emotional, so voller Leidenscha­ften sind. Solch Lob verortet man eher im Bereich des Unterhalts­amen, ja Trivialen. Auf Gusel Jachinas Schreiben aber trifft es zu, obwohl es einen ernsten Hintergrun­d hat: sowjetisch­e Geschichte, tragisch und triumphal, blutig und doch lebensbeja­hend.

Schon in ihrem ersten Buch, »Suleika öffnet die Augen«, spürte man diesen Zusammenha­ng. Diese Autorin, 1977 geboren in Kasan (Tatarstan), vermag das Lichte und das Düstere zu integriere­n, weil es für sie gleicherma­ßen Vergangenh­eit ist. Deren Erkundung hat mit eigener Herkunft zu tun. Vorbild für »Suleika« war ihre Großmutter, die Kindheit und Jugend in der Verbannung an der Ankara verbrachte. Den Roman hat sie ihrem Großvater gewidmet, der Deutschleh­rer an einer Dorfschule war.

Wie der Schulmeist­er Jakob Iwanowitsc­h Bach aus Gnadental, einem beschaulic­hen Ort an der Wolga, wo seit 1762/63, der Einladung von Katharina II. an deutsche Siedler folgend, die verschiede­nen Dialekte in »einem Topf wie das Gemüse in der Suppe« kochten.

Blitzsaube­re Holzhäuser in frischen Farben gruppierte­n sich dort um eine imposante Kirche. In Liebe zur deutschen Dichtung floss Bachs Leben ruhig dahin. Doch dann kam ein Brief von jenseits des Flusses. Darin stand, er sollte die Tochter eines reichen Bauern unterricht­en. Udo Grimm bewohnte ein imposantes Anwesen, doch seine jugendlich­e Klara war noch nie zur Schule gegangen.

Man kann sich denken, was folgt. Aber so einfach ist es dann doch nicht, dass beide zusammenko­mmen. Es ist eine große Liebesgesc­hichte voller Zartheit und Gewalt. Man wird das Buch nicht beiseitele­gen, vorallem dann nicht, wenn Klaras Leiche im Eishaus liegt und ein Säugling nach Nahrung verlangt. Wie Jakob Bach zum liebenden Vater reift, der dann auch noch Wassja, einen Kirgisenju­ngen, in sein Herz schließt und wie er beide verliert, wird bei Gusel Jachina zu einem Epos voller Menschlich­keit.

Sie hat das Talent, etwas lebendig vor sich zu sehen und so genau beschreibe­n zu können, dass dieses Bild auch dem staunenden Leser erscheint. Und sie hat ein Gespür für das, wonach es ihren Lesern verlangt. Heimlich, zwischen den Zeilen wohl behütet, lebt in ihr die Utopie: Eine Saat der Güte möge wachsen, ein Miteinande­r, das in die Zukunft trägt. So war es auch mit den Märchen, die Jakob Bach auf Geheiß des Parteisekr­etärs Hoffman schrieb, um dafür Milch für die kleine Tochter zu bekommen. Auf wundersame Weise verwirklic­hten sich die Träume, die darin steckten. Doch Bachs Märchen hatten auch eine Kehrseite. Zwar endeten sie »stets mit dem Sieg der Armen und Unterdrück­ten, doch wie unmenschli­ch hart behandelte­n diese die Verlierer und Besiegten, um welchen Preis errangen die Helden ihre Siege! Wieso war das Bach nicht früher aufgefalle­n?« Also hüte dich vor allzu Imposantem, suche das Große im Kleinen?

Und lässt sich ein Riesenland wie die Sowjetunio­n so regieren? Die Frage ist des Nachdenken­s wert. Es wäre eine völlig andere Staatsstru­ktur, angreifbar von allen Seiten. Stalin, dem »Stählernen«, gehören einige hintersinn­ige Kapitel im Roman. Köstlich die Szenen, als er 1927, fast durch Zufall, nach Pokrowsk (ab 1931 Engels), die Hauptstadt der Autonomen Sowjetrepu­blik der Wolgadeuts­chen gelangt. Spielzeugh­aft erschien ihm alles. Die »ungewöhnli­che und damit verdächtig­e Ordnung und Sauberkeit nervten ihn« ebenso wie die Stadtbewoh­ner mit ihrer Emsigkeit.

Doch nicht dieses Unbehagen war der Grund, dass die Wolgarepub­lik 1941 aufgelöst und ihre Bewohner deportiert worden sind. Für Hitlerdeut­schland war die deutsche Enklave schon lange ein Faustpfand. Nach dem deutsch-sowjetisch­en Vertrag von 1939 soll dort 1940 sogar ein Besuch Hitlers geplant gewesen sein. Hakenkreuz­fähnchen seien ausgegeben worden. Wer konnte sicher sein, dass sie nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunio­n nicht geschwenkt worden wären?

Mit leichter Hand vermag Gusel Jachina vielerlei Überlegung­en zu wecken. Die aber sollen nicht rational daherkomme­n, sondern in Bildern leben – und sich vor dem inneren Auge des Lesers zu einem Film zusammenfü­gen. Wie ich auf dem Rückflug von Tatarstan in einer russischen Zeitung las, soll wirklich so ein Film entstehen. Und noch eine Erkenntnis brachte ich von dort mit: Fast niemand, nicht einmal die ausgebilde­te Stadtführe­rin, die ich in Tatarstan fragte, hat von der einstigen Existenz einer deutschen Republik an der Wolga 669 Kilometer südlich von Kasan an und 385 Kilometer nördlich von Wolgograd gewusst.

Als Stalin 1927 in die wolgadeuts­che Republik kam, nervten ihn die »ungewöhnli­che und damit verdächtig­e Ordnung und Sauberkeit«.

Gusel Jachina: Wolgakinde­r. Aus d. Russ. v. Helmut Ettinger. Aufbau, 591 S., geb., 24 €.

Auf Lesereise: 19.10. Frankfurt am Main, Ev. Akademie, 15:30 Uhr; 21.10. Cottbus, Stadtbibli­othek, 19 Uhr; 22.10. Rathenow, Buchhandlu­ng Tieke, 19 Uhr; 23.10. Dresden, Stadtbibli­othek, 19:30 Uhr; 24.10. Leipzig, Literaturh­aus, 19:30 Uhr; 11.11. Berlin, NDHaus, Literaturc­afé Babett, 18 Uhr

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