Die jüdischen Gemeinden sind verunsichert
Vertreter der jüdischen Gemeinden beklagen Zunahme von Übergriffen. Viele halten ihre Einrichtungen mittlerweile für grundsätzlich gefährdet
Antisemitische Straftaten nehmen seit einigen Jahren zu. Vor allem werden sie von Rechtsextremen verübt. Die jüdischen Gemeinden fordern einen besseren Schutz.
Christina Feist befand sich in der Synagoge in Halle (Saale), als die tödlichen Schüsse fielen. Während an vielen Orten Bestürzung über die Tat herrscht, weist sie auf die Gefahren für Juden in Deutschland hin.
Sie verbringe sehr viel Zeit damit, jüdischen Freunden in Frankreich zu erklären, wie gefährlich es sei, in Begleitung mit männlichen Freunden mit Kippa eine Synagoge zu verlassen, erzählte die 29-Jährige der Deutschen Presseagentur. In Frankreich gebe es kein Bewusstsein dafür, »wie krass die Situation in Deutschland ist«. In Paris könne man noch mit Kippa auf dem Kopf herumlaufen.
Feist übte auch Kritik an der Polizei. Sie habe sich gewundert, dass vor der Synagoge keine Beamten standen, obwohl wegen des höchsten Feiertages Jom Kippur viel los gewesen sei. Das sei sie von ihrem Wohnort Berlin anders gewohnt. Es sei für sie unverständlich, dass die Polizei nicht wenigstens schneller vor Ort war, wenn schon niemand direkt vor der Tür stand, sagte Feist. Nach ihrer Einschätzung dauerte es mehr als 15 Minuten, ehe die Beamten eintrafen. »Das ist schon krass.«
Sergey Lagodinsky, Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Europaabgeordneter der Grünen, zeigte sich noch erschüttert von dem Anschlag; richtig überrascht habe ihn die Nachricht allerdings nicht. »Wir befinden uns in einer Situation, in der die Gesellschaft radikalisiert ist«, sagte er gegenüber »nd«. »Der Staat hat die Aufgabe, seine Minderheiten vor Gewalt und Terror zu schützen.« Auch Lagodinsky kritisierte, dass die Hallenser Synagoge nicht von Polizisten gesichert wurde. »Es macht mich fassungslos, welche Sicherheitslücken sich in Sachsen-Anhalt offenbart haben.«
Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, sagte dem »nd«, dass jüdische Einrichtungen in Deutschland grundsätzlich gefährdete Orte seien und als solche besonders gesichert werden müssten. »Dass Synagogen und andere Einrichtungen wie Hochsicherheitstrakte abgeschirmt werden, hat einen Grund: Antisemitismus«, sagte Königsberg.
Tatsächlich finden sich antisemitische Angriffe in den Berichten deutscher Polizeien immer häufiger. Am vergangenen Freitag griff ein Mann, mit einem Messer bewaffnet, einen Sicherheitsbeamten vor der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin an. Im August wurde in München eine Rabbinerfamilie angegriffen, beschimpft und bespuckt. Ende Juli wurde der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Yehuda Teichtal, attackiert. Immer wieder werden jüdische Friedhöfe geschändet.
Antisemitismus sei salonfähiger geworden, meinte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, Anfang des Jahres in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. »Ich glaube nicht, dass Juden bereits auf gepackten Koffern sitzen, aber einige schauen durchaus nach, wo die Koffer sind«, sagte Klein.
Antisemitische Straftaten sind in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Manche machen den Judenhass arabischer Zuwanderer dafür verantwortlich. Die Statistik kann das nicht bestätigen; sie zeigt ein anderes Bild: Von 1799 registrierten antisemitischen Taten waren 2018 laut Bundeskriminalamt 1603 rechtsextrem motiviert. Von 69 Gewalttaten gegen Juden gingen 49 von Rechtsextremisten aus.
Maya Zehden vom Vorstand der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin-Brandenburg appellierte an die Justizbehörden, konsequenter gegen antisemitische Straftäter vorzugehen. »Der Rechtsstaat muss alle seine Mittel im Kampf gegen den Hass auf Juden und den Staat Israel ausschöpfen«, forderte sie.
»Wir befinden uns in einer Situation, in der die Gesellschaft radikalisiert ist.« Sergey Lagodinsky, Repräsentant der Jüdischen Gemeinde zu Berlin