»Der Nordosten ist und bleibt ein Teil Syriens«
Ahmed Sheikho von der kurdischen Selbstverwaltung sieht in der türkischen Invasion eine Gefahr für fünf Millionen Menschen
Am Mittwoch hat das türkische Militär, gemeinsam mit Kämpfern der Freien Syrischen Armee, eine Invasion in die kurdischen Gebiete Nordsyriens begonnen. Gibt es überhaupt noch diplomatische Mittel, die Offensive abzuwenden? Zum Beispiel mit Hilfe der syrischen Regierungen oder Russland?
Wir haben stets und setzen auch weiterhin alle die uns zur Verfügung stehenden diplomatischen Mittel ein. Wir haben von Anfang an betont, dass unsere Tür zum Dialog und zur friedlichen Lösung immer offen steht. Wir waren niemals für die Option Krieg. Dieser Krieg wurde uns aufgezwungen. Zurzeit sind alle unsere diplomatischen Mittel und Kanäle im Einsatz, damit es zu einer friedlichen Lösung kommt. Wir nutzen unsere Beziehungen, sowohl im Inneren Syriens mit dem Regime als auch auf europäischer und internationaler Ebene mit den USA und ihren Verbündeten.
Der Nordosten ist und bleibt ein Teil Syriens und soll nicht getrennt werden. Deshalb ist es die Pflicht ganz Syriens, das Land gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Diese türkische Invasion bringt das Leben von ungefähr fünf Millionen Menschen in Gefahr. Unsere diplomatischen Bemühungen sind darauf ausgerichtet, die Gefahr für die Bevölkerung zu beseitigen und Frieden zu schaffen.
Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) waren maßgeblich für den militärischen Sieg gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich. Sie sind ein Kämpferverband, dem auch arabische und assyrische Kämpfer angehören. Kann die kurdische Selbstverwaltung auch jetzt auf diese Verbündeten zählen?
Als die Syrischen Demokratischen Kräfte gegründet wurden, schlossen sich ihr alle Bevölkerungsgruppen an. Sie haben gemeinsam gekämpft, sie haben alle Opfer gebracht und sie haben gemeinsam gesiegt. Zur Zeit schützen sie gemeinsam das Land und die Gesellschaft. Die Kriegsjahre haben dazu geführt, dass die Gesellschaft zusammen gerückt ist: Auf der Straße, bei den Behörden, im Militär, überall. Und alle – Kurden, Araber, Syrer – blicken auf die SDF und vertrauen darauf, dass sie uns schützen. Auch die Araber haben im Kampf gegen den IS Tausende Opfer für die uns alle schützende SDF gebracht.
Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, einen »Sicherheitskorridor« in Nordsyrien zu errichten, in den er in der Türkei lebende syrische Flüchtlinge umsiedeln möchte. Was bedeutet das für die Bevölkerung vor Ort und für die demografische Struktur?
Das ist ein Vorwand. Erdogan sagt, er will eine »Sicherheitszone«. Dabei würden wir behaupten: Nordsyrien ist das sicherste Gebiet im ganzen Land. Während des Krieges wurde kein einziger Schuss von Nordsyrien in Richtung Türkei gefeuert: Kein einziger Schuss! Wenn sein Ziel das Wohlergehen syrischer Flüchtlinge oder mehr »Sicherheit« in Syrien wäre, muss man bedenken, wie viele Tausende durch die jetzige Offensive zur Flucht gezwungen werden und wie sich der sicherste Teil Syriens wieder in ein Kriegsgebiet verwandelt. Das wahre Ziel Erdogans ist eine Besatzung – genau, wie er sie in Afrin praktiziert hat. Er hat dort die Bevölkerung umgesiedelt und arabisiert.
Im Übrigen beteiligen sich jetzt auch Kämpfer aus diesen Gebieten an der aktuellen Offensive. Seitdem die Türken angefangen haben, Einfluss auf den Krieg in Syrien zu nehmen, war das Erdoğans Politik. Er machte aus dem Bürgerkrieg einen Konflikt von Kurden gegen Araber, Araber gegen Kurden, in dem er die Seiten gegeneinander aufwiegelt hat, um seine außenpolitischen Interessen durchzusetzen.
Können Sie ein konkretes Beispiel dieser Aufwiegelung nennen, vielleicht in Bezug auf die derzeitige Offensive?
In den Tagen bevor Erdogan den endgültigen Marschbefehl gab, kursierten im Internet unzählige Propagandabilder, die das türkische Militär an seine Verbündeten wie auch an seine Feinde verbreitete. Ein Bild zeigte einen türkischen Panzer bei einem Kampfmanöver. Darauf stand: »Nehmt euch in Acht, ihr Ungläubigen, Mohammeds Armee ist im Anmarsch.« Das ist insofern beispielhaft, weil es zum einen den Kurden abspricht, selbst Muslime zu sein – was die meisten sind. Zum anderen wird die Rhetorik derer benutzt, von der die Türkei behauptet, sie zu bekämpfen, die sie in Wirklichkeit dadurch aber fördert: die Terrormiliz Islamischer Staat.