30 Jahre Opposition
Die Zeitschrift telegraph feiert ihr Jubiläum mit einer Sonderausgabe
Vor 30 Jahren erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift telegraph, herausgegeben von der linken DDROpposition. Gefeiert wird das mit einer Analyse rechter Kontinuitäten in Ostdeutschland.
Nie nostalgisch, immer kritisch – so habe sie den telegraph seit jeher gesehen, sagt Judith »Jutta« Braband. Braband, seit den späten 1970er Jahren Bürger- und Frauenrechtlerin in der DDR, sagt über sich selbst, sie sei »eine Frau der Tat« und schreibe nicht gern. Trotzdem hat sie einen Text beigesteuert, als die Redaktion vom telegraph sie um einen Beitrag für die Sondernummer bat, die an diesem Freitag erscheint. »Die haben mir viel Luft gelassen für den ersten richtigen Artikel meines Lebens«, lacht die 70Jährige. Der Titel ihres Erstlingswerks: »Feministin, oder was?«
30 Jahre sind seit dem Herbst 1989 vergangen, in dem sich in der DDR die Ereignisse überschlugen. Linke Oppositionelle erkannten daraufhin die Notwendigkeit eines schnellen Informations- und Diskussionsmediums und gründeten den telegraph. Am 10. Oktober 1989 erschien die erste Ausgabe. In der Redaktion des als »ostdeutsche Zeitschrift« erscheinenden Blatts liefen die (Ostberliner) Debatten um einen »Dritten Weg« für die untergehende DDR zusammen. Hier fand sich Platz für die Wut und den Schrecken angesichts der »brutalen Plattwalzung des kleinen Pflänzchens Emanzipation und der Hoffnung auf wirklich sozialistische und echte freiheitliche Reformen«, wie Dietmar Wolf es ausdrückt.
Für Wolf, telegraph-Redakteur der ersten Stunde und Ostberliner Antifa-Urgestein, drehen sich die turnusmäßigen Debatten um den Herbst 1989 lediglich um Äußerlichkeiten. Umso erstaunlicher findet er es, »dass sich dieses mal nicht alle mit dem, was in den Mainstream-Medien läuft, zufriedengeben«. Wenn man aber in die Tiefe gehe und die »Kolonialisierung des Ostens durch den Westen« thematisiere, werde man »ausgebuht und beschimpft, auch von links«, erzählt Wolf. Diese Erfahrung habe die telegraph-Redaktion bereits Ende der 90er Jahre gemacht. Doch es gibt auch positive Stimmen: »Ohne den telegraph hätte es die Wende so nie gegeben«, schrieb die Zeitung Graswurzelrevolution anlässlich der Feierlichkeiten zu »20 Jahre friedliche Revolution 1989«.
Zehn Jahre später erscheint mit »30 Jahre AfD« eine Sondernummer zum 30-jährigen Bestehen. Neben redaktionellen Beiträgen von Angelika Nguyen, Thomas Klein und Wolfram Kempe sind hier auch linke Stimmen Ostberlins vertreten, die schon 1989 zu hören waren – wie Jutta Braband. »Wir sind diejenigen, die nicht vergessen haben, wofür wir vor und nach ’89 gekämpft haben«, betont sie. »Klar, es ist schon alles gesagt, aber junge Interessierte fragen jetzt mehr nach und wir lesen sogar zusammen die alten Papiere«, erzählt die 70-Jährige.
Die Autor*innen von »30 Jahre Antifa im Osten« und von Initiativen wie »Aufbruch Ost« könnten dem telegraph zukünftig vielleicht sogar wieder ein jüngeres Publikum bescheren. Sie hätten das Zeug, auch wieder an Leute auf der Straße ranzukommen, sagt telegraph-Redakteur Dietmar Wolf. Bereits 2016/17 hatte der telegraph durch die Debatte um den linken Stadtsoziologen Andrej Holm und seine zurückgenommene Ernennung zum Staatssekretär für Wohnen mehr Aufmerksamkeit bekommen. Er war es, der seinerzeit eine saubere Analyse der Demontage Holms durch den »Tagesspiegel« veröffentlichte, nachdem dem Soziologen seine jugendliche Verpflichtung bei der Staatssicherheit um die Ohren geflogen war.
Mit der Sondernummer liefert der telegraph nun eine saubere Analyse des »Gedenkfeuerwerks des Jahres 2019«. Dieses, heißt es im Vorwort, könne einen fast glauben machen, der eigentliche Sinn der Herbstrevolution habe allein darin bestanden, »eine auf mediale Überwältigung zielende Feier der ›Wiedervereinigung‹ zu begehen«. Demgegenüber sei die Erinnerung an die revolutionären Momente des Aufbruchs in der DDR weit abgehängt.
Die Ausgabe liefert auch die Analyse, im Osten würden damalige Wähler des konservativen Wahlbündnisses Allianz für Deutschland (»AfD«) heute als AfD-Protestwähler ihrer Enttäuschung über die leeren Versprechungen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) Luft machen: »Nachdem sie vergeblich auf Honeckers sozialpolitische Verheißungen warteten (›Die SED hat uns betrogen – Honecker in den Knast‹), sahen sie sich im ersehnten ›Deutschland einig Vaterland‹ von Kohl getäuscht (›Die CDU hat uns verraten – Merkel muss weg‹)«, heißt es. Diese Menschen setzen nun »als wahre Erben und Vollender der Herbstrevolution (›Wir sind das Volk‹) auf die AfD, die sich geschickt als das neue ›Neue Forum‹ inszeniert«. Eine »rotzfreche Aneignung der demokratischen Revolution im Osten«, findet Judith Braband.
Die Jubiläumsausgabe vom telegraph erscheint diesen Freitag. »Wir sind das letzte existierende Samisdat der DDR-Opposition – und wir werden 30 Jahre alt. Das wollen wir gemeinsam feiern,« schreibt die Redaktion und lädt dafür ins Haus der Demokratie und Menschenrechte in der Greifswalder Straße zu einem Fest. Dort wird es neben Live-Konzerten und Tanzmusik auch eine Podiumsdiskussion zum Thema »30 Jahre telegraph – 30 Jahre linker Journalismus« geben. Dort sollen Strategien gegen die zunehmenden Angriffe auf linke, alternative und kritische Medien entwickelt werden – damit es den telegraph auch in 30 Jahren noch gibt.