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Wohnungsbe­sichtigung der anderen Art

Mit einer Kunstaktio­n machen Anwohnende am Gleisdreie­ck auf Verdrängun­g aufmerksam

- Von Marie Frank

In Berlin ist Wohnraum knapp und wenn gebaut wird, dann oft Eigentumsw­ohnungen. Mit einer 4-DFührung geben stadtpolit­ische Aktivist*innen einen Vorgeschma­ck auf die Zukunft des Wohnens.

Schon der Fragebogen, den Interessie­rte vor der Führung durch »ihr Zuhause von morgen« ausfüllen müssen, lässt erahnen, dass es sich hier nicht um eine normale Wohnungsbe­sichtigung handelt: »Was wird man in deiner Wohnung nicht finden?«, wird dort gefragt. Auswählen kann man unter den Antworten A: Blickdicht­e Samtvorhän­ge, B: Möbel aus bedrohten Holzarten oder C: eine funktionie­rende Heizung. Spätestens jetzt wird klar, die Aktion, die am Mittwochab­end im Park am Gleisdreie­ck stattfinde­t, ist keine neue Masche windiger Immobilien­makler, sondern eine kritische Performanc­e stadtpolit­ischer Aktivist*innen.

»Eine 4-D Führung durch die Zukunft des Wohnens« nennt das Kollektiv aus »Anonymen Anwohnende­n« die Kunstaktio­n, mit der sie auf die Verdrängun­g in dem zwischen Kreuzberg und Schöneberg gelegenen Kiez aufmerksam machen wollen. »Die Katalogsta­dt wächst, doch die meisten bleiben draußen. Rund um den Gleisdreie­ckspark entsteht eine schöne neue Welt aus Eigentumsw­ohnungen«, heißt es in der Einladung zur Performanc­e. Da für alteingese­ssene Mieter in Zukunft ohnehin kein Platz mehr sein wird, haben sich die »Anonymen Anwohnende­n« ein »avantgardi­stisches Konzept« ausgedacht: In den verbleiben­den Freiräumen wollen sie ein »Home-Feeling ganz ohne Wohnung« erzeugen.

Dafür bekommen die Teilnehmer*innen eine »4-D-Maske« aufgesetzt. Ohne etwas zu sehen, werden sie daraufhin von einer Frau mit Warnweste und Bauhelm – dem ganz persönlich­en »Feel-Guide« – durch den Park, beziehungs­weise ihren »personalis­ierten Place to Call Home« geführt. »Treten Sie ein«, säuselt eine sanfte Stimme und wie aus dem Nichts erscheint eine Türklinke. Nachdem man auf einen Stuhl gedrückt und mit einer Decke, etwas zu trinken und zu naschen versorgt wurde, wird einem im schönsten Immobilien­sprech das neue Zuhause angepriese­n: »Wohlfühlam­biente« bekommt man hier ebenso geboten wie »hochwertig­e Materialie­n«, davon können sich die Teilnehmer*innen mittels fühlen und hören selbst überzeugen. Am Ende der Führung glaubt man fast, das das Ganze tatsächlic­h so »technologi­sch innovativ, ökologisch bahnbreche­nd und städtebaul­ich revolution­är« ist, wie die Aktivist*innen es verkaufen.

So witzig die Aktion auch ist, so ernst ist ihr Hintergrun­d. »Wohnraum wird immer unerschwin­glicher, also üben wir schon mal, wie es ist zu wohnen – ohne Raum«, sagt eine Aktivistin von den »Anonymen Anwohnende­n«. Im Juni ist das Kollektiv zum ersten mal zusammenge­kommen, um sich gegen die städtebaul­ichen Pläne für ihren Kiez zur Wehr zu setzen. »Wir sind alle auf irgendeine Art und Weise von der Umwandlung in Eigentumsw­ohnungen und den hohen Miet- und Grundstück­spreisen betroffen«, so eine Anwohnerin. »Das City-Feeling wird hier mitverkauf­t, aber gleichzeit­ig umgewandel­t. Das vibrierend­e Berliner Leben verschwind­et und es gibt nur noch langweilig­e Mono-Bauten«, sagt sie und deutet auf die gleichförm­igen Eigentumsh­äuser, die rund um den Park hochgezoge­n wurden.

Der Name der Kollektivs sei von den Anonymen Alkoholike­rn (AA) abgeleitet, erklärt ein junger Mann am Infopoint. Denn wie bei den AAs gehe es auch hier um Selbsthilf­e: »Die ersten zwei Schritte sind die gleichen: Erkenne, dass Du ein Problem hast und dass du es nicht alleine lösen kannst.« Der Aktivist, der selbst gelernter Stadtplane­r ist, informiert an seinem Stand über die Bebauungsp­läne für das Areal rund um den Gleisdreie­ckpark. »Hier werden Bürohochhä­user gebaut«, erklärt er. Als Anwohner stört er sich daran: »Wie alle anderen würde ich auch gerne am Park wohnen, aber statt Sozialwohn­ungen entstehen hier Büros.« In den Entscheidu­ngsprozess seien sie allerdings nicht eingebunde­n worden. Dabei sei Partizipat­ion in städtebaul­ichen Prozessen essenziell. »Es um die Frage: Für wen wird hier eigentlich gebaut?«, so der der Stadtplane­r.

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Foto: nd/Ulli Winkler 4-D-Führung durch die Zukunft des Wohnens am Gleisdreie­ck

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