Wünsche wagen
Der Wünschewagen erfüllt todkranken Menschen einen langgehegten Traum
Wo Todkranke Reisebegleiter für schwer erfüllbare Träume finden.
Samstagmorgen in Teltow, einer Kleinstadt im Süden Berlins. Auf dem Parkplatz hinter der Feuerwehr steht ein blau-weiß-oranger Kleinbus, der aussieht wie ein Krankentransporter mit Rundumverglasung. Eine Krankenliege ist dort montiert, daneben ein mobiler Sitz. An der Wand hängen medizinische Geräte, zur Sauerstoffversorgung und zum Absaugen von Sekreten.
Langsam steuert die Krankenschwester Daniela Küpper den Bus auf die Landstraße. Sie wird begleitet von Annette Sillack, einer erfahrenen Ärztin aus Cottbus. Krankenschwester Küpper kennt die Prozedur. Es ist die fünfte Tour für die junge Frau mit den braunen, zum Zopf gebundenen Haaren. Sie ist mit dem Wünschewagen schon bis an die Ostsee gefahren – den alten Urlaubserinnerungen eines todkranken Gastes hinterher. Oder zum Angeln mit den Angehörigen, noch einmal dem Lieblingshobby frönen. Heute wartet ihr Fahrgast in Nauen, einer brandenburgischen Kleinstadt nordwestlich von Berlin. Küpper hat ihn noch nie getroffen. »Man darf sich über das, was kommt, einfach nicht zu viele Gedanken machen«, sagt sie. »Man darf das nicht mit nach Hause nehmen.« Bisher hat das auch immer ganz gut geklappt.
Das Navi zeigt 40 Kilometer an, noch 35 Minuten bis Nauen. Hier wohnen Maximilian Kanwischer, den alle nur Max nennen, und seine Freundin Jasmin Detzner. Max Kanwischer, der älter wirkt als seine 25 Jahre, ist hier groß geworden. Seine Eltern wohnen im selben Haus, Oma und Opa gleich nebenan. Hinten an die Wand im Wohnzimmer haben Max und Jasmin einen Schriftzug gemalt: »Familie ist, wo Leben beginnt und Liebe niemals endet«, steht dort in großen lila Lettern geschrieben. Denn Jasmin und Max haben schon viel miteinander durchgestanden. 2015 hat Max mit nur 21 Jahren einen Schlaganfall, sitzt monatelang im Rollstuhl. Doch mit Jasmins Hilfe wird er gesund, heute kann er wieder laufen. Vor einem Jahr macht Max ihr auf einer Kreuzfahrtreise schließlich einen Heiratsantrag.
Die Hochzeit ist geplant für den 18. Mai 2019. Doch ein neuer Schicksalsschlag bringt alles durcheinander. Im März bekommt Jasmins Vater eine tödliche Diagnose. Sein ganzer Körper ist von Krebszellen befallen, die Ärzte geben ihm nur noch wenige Wochen. Jasmin und ihr Vater sind verzweifelt. »Es gab Tage, da habe ich viel geweint«, erzählt sie. »Es ist schwer, wenn man weiß: Es ist dein Papa, und der kann morgen schon nicht mehr da sein.« Gemeinsam mit Max entscheidet sie: Die Hochzeit findet statt. Und Jasmins Vater soll dabei sein. Aber wie soll das gehen?
Erst vor ein paar Tagen haben sie den Vater zu sich nach Hause geholt. Er hat das alte Kinderzimmer von Max bezogen. Volker Gröger, 61 Jahre alt, ist ein gemütlicher Mann mit einem sanften Wesen. Seine Welt ist klein geworden durch die Krankheit, für fast alles braucht er Hilfe. Die Krankheit hat sein Gesicht gelb verfärbt. Bis vor wenigen Wochen führte er noch ein ganz normales Leben: Ging zur Arbeit, traf sich mit Freunden, fuhr regelmäßig in den Urlaub. Die Diagnose Krebs im Endstadium traf ihn wie ein Schlag. »Da geht ein ganz tiefes Loch auf, das ist so tief, das kann man sich gar nicht vorstellen«, sagt er.
Aber Gröger ist ein Mensch voller Zuversicht. Nachdem er zum zweiten Mal im Krankenhaus in Potsdam war, wollten die Ärzte ihn in ein Hospiz schicken. Doch Gröger war anderer Meinung.
»Für mich war Hospiz wie Kiste, ich hatte große Angst«, sagt er. Also entschied die Familie, ihn nach Hause zu holen. Jetzt sitzt er auf dem Bett in Max’ früherem Kinderzimmer und atmet schwer. Er ist froh, hier sein zu können. Gröger beugt sich nach vorne, zieht aus einer Tasche ein altes Fotoalbum hervor. Dann zeigt er auf ein schwarz-weißes Ultraschall-Bild – seine Tochter Jasmin. »Ich war so stolz«, sagt er. »Ich kann heute noch über alles, was im Kreißsaal passiert ist, minutiös berichten.« Seit einem Jahr freut er sich mit ihr auf die Hochzeit. Auch ein Kleid hat er Jasmin längst gekauft. Als er krank wurde, hörten die Kinder vom Wünschewagen. Gröger war schnell überzeugt: »Ich habe ihr nur gesagt: wunderbar, das machen wir.«
Daniela Küpper parkt den Wünschewagen vor dem Haus der Familie Kanwischer. Herzlich werden sie und Annette Sillack von der Familie begrüßt. Die ersten Gäste sind schon angereist und warten im Garten. Küpper und Sillack, beide in Jeans und dunkelblauen WünschewagenShirts, fallen auf zwischen den vielen Jacketts und Kleidern.
Auch Gröger hat sich für den besonderen Tag schick gemacht. Er trägt ein graues Jackett zur schwarzen Hose. Gestützt von zwei Hochzeitsgästen setzt er sich vorsichtig in den Rollstuhl, den Annette Sillack aus dem Wünschewagen geholt hat.
»Natürlich wissen wir alle, warum wir miteinander fahren, aber die Fahrten sind alles andere als depressiv.«
Manuel Möller, Projektkoordinator beim ASB Brandenburg
Schnell wird eine Rampe ausgefahren, und mit vereinten Kräften schieben sie den Rollstuhl ins Auto. Das ist nicht ganz einfach, denn Gröger ist groß und schwer, er wiegt 160 Kilogramm. Annette Sillack legt Gröger den Sauerstoffschlauch um den Hals, dreht den Hahn langsam auf. Gröger sieht müde aus, die Schmerzen sind wieder stärker geworden. Dann setzt sich der Wünschewagen in Bewegung. Über Landstraßen und Kopfsteinpflaster geht es zur Trauung im Schloss Ribbeck, einem barocken Herrenhaus im Havelland.
Im Vorraum des Trausaals wartet Volker Gröger zusammen mit seinen zwei Helferinnen auf seine Tochter Jasmin. Die Gäste haben sich drinnen im Saal schon versammelt. Volker Gröger sitzt davor, er darf als erster das Brautkleid sehen, das er seiner Tochter Jasmin geschenkt hat. Er hält die Handykamera bereit, als Jasmin in einem langen, weißen, schulterfreien Kleid langsam die Treppen hinaufkommt.
Im Rollstuhl sitzend, führt Gröger seine Tochter in den Trausaal, vorbei an den fast 60 Gästen. Jasmin setzt sich rechts neben ihren Freund Max, der einen dunklen Anzug mit Einstecktuch trägt. Gröger stellt sich mit seinem Rollstuhl schräg hinter die beiden. Dann begrüßt die Standesbeamtin das Brautpaar und verliest den Ehevertrag. Max hat Jasmins Hand gegriffen. Die Braut wischt sich eine Träne aus den Augen, und auch Grögers Blick wird weich und melancholisch.
Am Nachmittag, als die Hochzeitsgesellschaft längst in einen Landgasthof weitergezogen ist, greift Volker Gröger endlich zum Mikrofon. Er gratuliert dem Brautpaar und möchte sich dafür bedanken, dass er heute mit dabei sein kann – und er erzählt von seinen eigenen Plänen. »Es steht ein neues Haus, und dieses Haus wird mich auch beherbergen«, sagt er stolz. Seine Tochter Jasmin und Schwiegersohn Max haben ihr eigenes Heim gebaut, in das sie in den nächsten Wochen einziehen wollen – und Gröger soll mitkommen. Doch planen kann er eigentlich nur von Tag zu Tag. Niemand kann sagen, wie lange er noch durchhalten wird.
Als es draußen dunkel wird, werden die Gäste ins Freie gebeten. Auch Grögers Rollstuhl wird nach draußen geschoben. Am Rand der Landstraße bleibt er stehen und beobachtet das Feuerwerk für das Brautpaar. Für ein paar Minuten leuchtet der Brandenburger Himmel hell. Dann schlendern die Gäste langsam wieder nach drinnen. Nur Volker Gröger nicht. Für ihn ist die Feier zu Ende. Mit dem Wünschewagen fährt er zurück nach Nauen. Dort angekommen, bringen drei junge Männer der Hochzeitsgesellschaft Volker Gröger wieder in sein Zimmer. Er wuchtet sich ins Bett. Daniela Küpper und Annette Sillack vom Wünschewagen-Team verabschieden sich. Sillack reicht Gröger noch seine Tabletten-Schatulle, sie wirkt gefasst und erleichtert: »Es war sein Wunsch, heute dabei sein zu können, und der Wunsch ist in Erfüllung gegangen – das ist doch etwas ganz Wunderbares.« Auch Volker Gröger ist glücklich. Müde seufzt er: »Ich war voll und ganz zufrieden.«
Zwei Wochen später in Nauen. Max und Jasmin Kanwischer führen durch ihr neues Heim, bezugsfertig und visa-vis vom Haus seiner Eltern. Der Esstisch und sechs Stühle sind schon aufgestellt, der Kamin liegt noch verpackt auf dem Wohnzimmerboden. Dann gehen die beiden über den gefliesten Flur zum Zimmer von Volker Gröger. »Hier wollten wir meinen Papa unterbringen, mit neuen Möbeln und seinem Pflegebett, das war der Plan«, sagt Jasmin.
Doch daraus wird nichts mehr. Denn schon am Tag nach der Hochzeit geht es Volker Gröger deutlich schlechter. Er will kaum noch essen oder trinken, hat Atemnot. »Der Moment war sehr schwierig«, erzählt Jasmin. »Also ihn so zu sehen, wie es ihm schlecht geht, wie die Luft knapper wird.« Gemeinsam verbringen Max und Jasmin die letzten Stunden am Bett ihres Vaters. »Und dann ist er ganz ruhig und friedlich eingeschlafen«, erinnert sich Jasmin. »Wir saßen daneben und haben es gesehen, das hat mich ein bisschen beruhigt.«
Zwei Tage nach der Hochzeit ist Volker Gröger gestorben. In das Zimmer, wo er seine letzten Tage verbracht hat, möchte Jasmin jetzt nicht gehen. «Wir versuchen klare Abschlüsse zu finden, um die Trauer loszuwerden«, sagt sie. »Wir wollen gerne an ihn zurückdenken, aber eher im positiven Sinne. Man will diesen Moment des Todes vergessen und nur noch an das Gute denken.« Zum Beispiel an den Tag, den Volker Gröger noch so bewusst genossen hat. Seine letzte Reise, zur Hochzeit seiner Tochter.