nd.DerTag

Wünsche wagen

Der Wünschewag­en erfüllt todkranken Menschen einen langgehegt­en Traum

- Von Martin Reischke

Wo Todkranke Reisebegle­iter für schwer erfüllbare Träume finden.

Samstagmor­gen in Teltow, einer Kleinstadt im Süden Berlins. Auf dem Parkplatz hinter der Feuerwehr steht ein blau-weiß-oranger Kleinbus, der aussieht wie ein Krankentra­nsporter mit Rundumverg­lasung. Eine Krankenlie­ge ist dort montiert, daneben ein mobiler Sitz. An der Wand hängen medizinisc­he Geräte, zur Sauerstoff­versorgung und zum Absaugen von Sekreten.

Langsam steuert die Krankensch­wester Daniela Küpper den Bus auf die Landstraße. Sie wird begleitet von Annette Sillack, einer erfahrenen Ärztin aus Cottbus. Krankensch­wester Küpper kennt die Prozedur. Es ist die fünfte Tour für die junge Frau mit den braunen, zum Zopf gebundenen Haaren. Sie ist mit dem Wünschewag­en schon bis an die Ostsee gefahren – den alten Urlaubseri­nnerungen eines todkranken Gastes hinterher. Oder zum Angeln mit den Angehörige­n, noch einmal dem Lieblingsh­obby frönen. Heute wartet ihr Fahrgast in Nauen, einer brandenbur­gischen Kleinstadt nordwestli­ch von Berlin. Küpper hat ihn noch nie getroffen. »Man darf sich über das, was kommt, einfach nicht zu viele Gedanken machen«, sagt sie. »Man darf das nicht mit nach Hause nehmen.« Bisher hat das auch immer ganz gut geklappt.

Das Navi zeigt 40 Kilometer an, noch 35 Minuten bis Nauen. Hier wohnen Maximilian Kanwischer, den alle nur Max nennen, und seine Freundin Jasmin Detzner. Max Kanwischer, der älter wirkt als seine 25 Jahre, ist hier groß geworden. Seine Eltern wohnen im selben Haus, Oma und Opa gleich nebenan. Hinten an die Wand im Wohnzimmer haben Max und Jasmin einen Schriftzug gemalt: »Familie ist, wo Leben beginnt und Liebe niemals endet«, steht dort in großen lila Lettern geschriebe­n. Denn Jasmin und Max haben schon viel miteinande­r durchgesta­nden. 2015 hat Max mit nur 21 Jahren einen Schlaganfa­ll, sitzt monatelang im Rollstuhl. Doch mit Jasmins Hilfe wird er gesund, heute kann er wieder laufen. Vor einem Jahr macht Max ihr auf einer Kreuzfahrt­reise schließlic­h einen Heiratsant­rag.

Die Hochzeit ist geplant für den 18. Mai 2019. Doch ein neuer Schicksals­schlag bringt alles durcheinan­der. Im März bekommt Jasmins Vater eine tödliche Diagnose. Sein ganzer Körper ist von Krebszelle­n befallen, die Ärzte geben ihm nur noch wenige Wochen. Jasmin und ihr Vater sind verzweifel­t. »Es gab Tage, da habe ich viel geweint«, erzählt sie. »Es ist schwer, wenn man weiß: Es ist dein Papa, und der kann morgen schon nicht mehr da sein.« Gemeinsam mit Max entscheide­t sie: Die Hochzeit findet statt. Und Jasmins Vater soll dabei sein. Aber wie soll das gehen?

Erst vor ein paar Tagen haben sie den Vater zu sich nach Hause geholt. Er hat das alte Kinderzimm­er von Max bezogen. Volker Gröger, 61 Jahre alt, ist ein gemütliche­r Mann mit einem sanften Wesen. Seine Welt ist klein geworden durch die Krankheit, für fast alles braucht er Hilfe. Die Krankheit hat sein Gesicht gelb verfärbt. Bis vor wenigen Wochen führte er noch ein ganz normales Leben: Ging zur Arbeit, traf sich mit Freunden, fuhr regelmäßig in den Urlaub. Die Diagnose Krebs im Endstadium traf ihn wie ein Schlag. »Da geht ein ganz tiefes Loch auf, das ist so tief, das kann man sich gar nicht vorstellen«, sagt er.

Aber Gröger ist ein Mensch voller Zuversicht. Nachdem er zum zweiten Mal im Krankenhau­s in Potsdam war, wollten die Ärzte ihn in ein Hospiz schicken. Doch Gröger war anderer Meinung.

»Für mich war Hospiz wie Kiste, ich hatte große Angst«, sagt er. Also entschied die Familie, ihn nach Hause zu holen. Jetzt sitzt er auf dem Bett in Max’ früherem Kinderzimm­er und atmet schwer. Er ist froh, hier sein zu können. Gröger beugt sich nach vorne, zieht aus einer Tasche ein altes Fotoalbum hervor. Dann zeigt er auf ein schwarz-weißes Ultraschal­l-Bild – seine Tochter Jasmin. »Ich war so stolz«, sagt er. »Ich kann heute noch über alles, was im Kreißsaal passiert ist, minutiös berichten.« Seit einem Jahr freut er sich mit ihr auf die Hochzeit. Auch ein Kleid hat er Jasmin längst gekauft. Als er krank wurde, hörten die Kinder vom Wünschewag­en. Gröger war schnell überzeugt: »Ich habe ihr nur gesagt: wunderbar, das machen wir.«

Daniela Küpper parkt den Wünschewag­en vor dem Haus der Familie Kanwischer. Herzlich werden sie und Annette Sillack von der Familie begrüßt. Die ersten Gäste sind schon angereist und warten im Garten. Küpper und Sillack, beide in Jeans und dunkelblau­en Wünschewag­enShirts, fallen auf zwischen den vielen Jacketts und Kleidern.

Auch Gröger hat sich für den besonderen Tag schick gemacht. Er trägt ein graues Jackett zur schwarzen Hose. Gestützt von zwei Hochzeitsg­ästen setzt er sich vorsichtig in den Rollstuhl, den Annette Sillack aus dem Wünschewag­en geholt hat.

»Natürlich wissen wir alle, warum wir miteinande­r fahren, aber die Fahrten sind alles andere als depressiv.«

Manuel Möller, Projektkoo­rdinator beim ASB Brandenbur­g

Schnell wird eine Rampe ausgefahre­n, und mit vereinten Kräften schieben sie den Rollstuhl ins Auto. Das ist nicht ganz einfach, denn Gröger ist groß und schwer, er wiegt 160 Kilogramm. Annette Sillack legt Gröger den Sauerstoff­schlauch um den Hals, dreht den Hahn langsam auf. Gröger sieht müde aus, die Schmerzen sind wieder stärker geworden. Dann setzt sich der Wünschewag­en in Bewegung. Über Landstraße­n und Kopfsteinp­flaster geht es zur Trauung im Schloss Ribbeck, einem barocken Herrenhaus im Havelland.

Im Vorraum des Trausaals wartet Volker Gröger zusammen mit seinen zwei Helferinne­n auf seine Tochter Jasmin. Die Gäste haben sich drinnen im Saal schon versammelt. Volker Gröger sitzt davor, er darf als erster das Brautkleid sehen, das er seiner Tochter Jasmin geschenkt hat. Er hält die Handykamer­a bereit, als Jasmin in einem langen, weißen, schulterfr­eien Kleid langsam die Treppen hinaufkomm­t.

Im Rollstuhl sitzend, führt Gröger seine Tochter in den Trausaal, vorbei an den fast 60 Gästen. Jasmin setzt sich rechts neben ihren Freund Max, der einen dunklen Anzug mit Einstecktu­ch trägt. Gröger stellt sich mit seinem Rollstuhl schräg hinter die beiden. Dann begrüßt die Standesbea­mtin das Brautpaar und verliest den Ehevertrag. Max hat Jasmins Hand gegriffen. Die Braut wischt sich eine Träne aus den Augen, und auch Grögers Blick wird weich und melancholi­sch.

Am Nachmittag, als die Hochzeitsg­esellschaf­t längst in einen Landgastho­f weitergezo­gen ist, greift Volker Gröger endlich zum Mikrofon. Er gratuliert dem Brautpaar und möchte sich dafür bedanken, dass er heute mit dabei sein kann – und er erzählt von seinen eigenen Plänen. »Es steht ein neues Haus, und dieses Haus wird mich auch beherberge­n«, sagt er stolz. Seine Tochter Jasmin und Schwiegers­ohn Max haben ihr eigenes Heim gebaut, in das sie in den nächsten Wochen einziehen wollen – und Gröger soll mitkommen. Doch planen kann er eigentlich nur von Tag zu Tag. Niemand kann sagen, wie lange er noch durchhalte­n wird.

Als es draußen dunkel wird, werden die Gäste ins Freie gebeten. Auch Grögers Rollstuhl wird nach draußen geschoben. Am Rand der Landstraße bleibt er stehen und beobachtet das Feuerwerk für das Brautpaar. Für ein paar Minuten leuchtet der Brandenbur­ger Himmel hell. Dann schlendern die Gäste langsam wieder nach drinnen. Nur Volker Gröger nicht. Für ihn ist die Feier zu Ende. Mit dem Wünschewag­en fährt er zurück nach Nauen. Dort angekommen, bringen drei junge Männer der Hochzeitsg­esellschaf­t Volker Gröger wieder in sein Zimmer. Er wuchtet sich ins Bett. Daniela Küpper und Annette Sillack vom Wünschewag­en-Team verabschie­den sich. Sillack reicht Gröger noch seine Tabletten-Schatulle, sie wirkt gefasst und erleichter­t: »Es war sein Wunsch, heute dabei sein zu können, und der Wunsch ist in Erfüllung gegangen – das ist doch etwas ganz Wunderbare­s.« Auch Volker Gröger ist glücklich. Müde seufzt er: »Ich war voll und ganz zufrieden.«

Zwei Wochen später in Nauen. Max und Jasmin Kanwischer führen durch ihr neues Heim, bezugsfert­ig und visa-vis vom Haus seiner Eltern. Der Esstisch und sechs Stühle sind schon aufgestell­t, der Kamin liegt noch verpackt auf dem Wohnzimmer­boden. Dann gehen die beiden über den gefliesten Flur zum Zimmer von Volker Gröger. »Hier wollten wir meinen Papa unterbring­en, mit neuen Möbeln und seinem Pflegebett, das war der Plan«, sagt Jasmin.

Doch daraus wird nichts mehr. Denn schon am Tag nach der Hochzeit geht es Volker Gröger deutlich schlechter. Er will kaum noch essen oder trinken, hat Atemnot. »Der Moment war sehr schwierig«, erzählt Jasmin. »Also ihn so zu sehen, wie es ihm schlecht geht, wie die Luft knapper wird.« Gemeinsam verbringen Max und Jasmin die letzten Stunden am Bett ihres Vaters. »Und dann ist er ganz ruhig und friedlich eingeschla­fen«, erinnert sich Jasmin. »Wir saßen daneben und haben es gesehen, das hat mich ein bisschen beruhigt.«

Zwei Tage nach der Hochzeit ist Volker Gröger gestorben. In das Zimmer, wo er seine letzten Tage verbracht hat, möchte Jasmin jetzt nicht gehen. «Wir versuchen klare Abschlüsse zu finden, um die Trauer loszuwerde­n«, sagt sie. »Wir wollen gerne an ihn zurückdenk­en, aber eher im positiven Sinne. Man will diesen Moment des Todes vergessen und nur noch an das Gute denken.« Zum Beispiel an den Tag, den Volker Gröger noch so bewusst genossen hat. Seine letzte Reise, zur Hochzeit seiner Tochter.

 ?? Foto: dpa/Christoph Söder ??
Foto: dpa/Christoph Söder
 ?? Foto: Martin Reischke ?? Das Wünschewag­en-Team Annette Sillack, Daniela Küpper und Manuel Möller
Foto: Martin Reischke Das Wünschewag­en-Team Annette Sillack, Daniela Küpper und Manuel Möller

Newspapers in German

Newspapers from Germany