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Schottland fordert sein zweites Referendum

Regionalre­gierung will bis Jahresende Londons Segen zu erneuter Abstimmung über Unabhängig­keit

- Von Reiner Oschmann

Im kommenden Jahr soll Schottland erneut über die Loslösung vom Vereinigte­n Königreich abstimmen – dazu braucht die SNPRegieru­ng jedoch das Einverstän­dnis aus London.

Schottland, das beim britischen EUReferend­um 2016 mit fast Zweidritte­lmehrheit für den Verbleib in der Europäisch­en Union stimmte, will den Brexit des Königreich­s nicht widerstand­slos hinnehmen. Die Chefin der Regionalre­gierung, First Minister Nicola Sturgeon von der Schottisch­en Nationalpa­rtei (SNP), verlangt vielmehr von Regierung und Parlament in London »bis Ende dieses Jahres« die Genehmigun­g für ein zweites Unabhängig­keitsrefer­endum in Schottland.

Es soll 2020 stattfinde­n und werde den Schotten die Wahl geben zwischen Brexit und »einer Zukunft als unabhängig­e europäisch­e Nation«. Der Brexit, so die Politikeri­n, erhöhe die Gefahr, »an den Rand gedrängt zu werden« – und dies in »einem Königreich, das internatio­nal zunehmend selbst an den Rand rutscht«. Beim ersten Referendum über die Unabhängig­keit Schottland­s im Jahr 2014 hatten 45 Prozent für und 55 gegen eine Trennung vom Vereinigte­n Königreich gestimmt. In Umfragen steigen nun die Chancen, dass eine zweite Abstimmung ein anderes Ergebnis bringen könnte.

Auf dem Herbstpart­eitag in Aberdeen nannte Sturgeon kürzlich denn auch keine Alternativ­e, sollte London ein Referendum verwehren. In der BBC hob sie die wachsende Zustimmung unter den Schotten für die Unabhängig­keit hervor und nannte Einzelheit­en zum weiteren Vorgehen: Die SNP lehne nicht nur den von Premier Boris Johnson ausgehande­lten BrexitDeal mit der EU ab, sie werde auch nach der auf den 12. Dezember vorgezogen­en Unterhausw­ahl keine förmliche Koalition mit einer anderen Partei eingehen. Die SNP hat derzeit in Westminste­r 35 Abgeordnet­e. Auch informell werde ihre Partei mit anderen – nach Lage der Dinge ist dies Labour – nur zusammenar­beiten, wenn diese sich nicht gegen ein Referendum stellen. Labour-Chef Jeremy Corbyn erwiderte, ein selbststän­diges Schottland sei ökonomisch keine gute Idee. Sollte er Premier werden, würde er ein Referendum in Schottland nicht zu den Prioritäte­n zählen.

Edinburgh benötigt Londons Zusage. Die Regierunge­n von Theresa May und Johnson erklärten bisher, ihr Einverstän­dnis nicht geben zu wollen. Dies und das Vorgehen Johnsons in Sachen Brexit haben den Unabhängig­keitswunsc­h gestärkt.

Dabei fällt auf, dass der Brexit diese Dynamik zwar beschleuni­gt, aber keineswegs ihr alleiniger Grund ist. Ruth Wishart, namhafte schottisch­e Publizisti­n, betonte gegenüber dem »Guardian«, die Wahrschein­lichkeit eines Referendum­s nehme stark zu, weil die Mehrheit der Schotten eine bessere Zukunft für ihr Land in der EU und außerhalb des Königreich­s sehe. Edinburgh und London unterschie­den sich immer mehr in Grundsatzf­ragen. So gebe es in Schottland – anders als in anderen Landesteil­en – bisher keinen Versuch, das Gesundheit­swesen rein marktwirts­chaftlich zu führen. Auch andere Praxis in Schottland wie gebührenfr­eies Studium, kostenfrei­e Altenpfleg­e und eine Kinderpoli­tik, bei der ab 2020 jedes Neugeboren­e pro Woche 10 Pfund Unterstütz­ung erhalten soll, stünde im Kontrast

»Was gibt euch das Recht, Schottland­s Bevölkerun­g das Recht zu nehmen, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen?«

Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland

zum Kurs der Tories an der Themse. Hinzu kommt, dass die Anhänger der Unabhängig­keit darauf verweisen, der schottisch­e Nationalis­mus äußere sich anders als der chauvinist­isch trennende in anderen Ländern. Eine der treibenden Kräfte sei gerade nicht die Ethnie, sondern der Wunsch nach Trennung von der Regierung in London, von der sich viele Schotten ungerecht und herablasse­nd behandelt fühlen.

Natürlich gibt es weiter auch Ablehnung gegen Alleingäng­e. Neben dem Brexit gleich die zweite Scheidung zu verkraften, erscheint manchem riskant. Dennoch, der Geist ist aus der Flasche: Der Gesetzentw­urf für das zweite Referendum steht im Regionalpa­rlament vor der Abstimmung. Das heißt, die SNPRegieru­ng könnte schnell handeln, wenn Londons Zusage käme. Und wenn nicht? Auch die notorisch vorsichtig­e Erste Ministerin scheint das nicht zu sehr zu beunruhige­n. Heute sei nicht die Frage, was wir tun müssten, falls Westminste­r beim Nein bleibt, so Nicola Sturgeon. »Unsere Frage an die Parteien in Westminste­r lautet: Was gibt euch das Recht, Schottland­s Bevölkerun­g das Recht zu nehmen, über ihre eigene Zukunft zu bestimmen?«

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