Die Dummheiten der Rache
Der Widerstandskämpfer Robert Antelme in einem Film von Stefan Hayn
Stefan Hayns Film »Brot, Rache?«, der gerade in Leipzig Premiere feiert, präsentiert zwei kurze Texte von Robert Antelme (1917–1990). Einer davon ist in Deutschland nicht bekannt, der andere nur wenig. Auch in diesem Fall ist der DDR-Bürger im Vorteil. Denn die Geschichte von einem Brotraub unter Häftlingen eines Konzentrationslagers findet sich in Roland Schachts Übersetzung von Robert Antelmes »Die Gattung Mensch«, erschienen 1949 im Aufbau-Verlag. In der ohnehin schwächeren West-Übersetzung, die fast 40 Jahre später herauskam (»Das Menschengeschlecht«, 1987), fehlt die Passage. Der Autor hatte sie streichen lassen, weil er fürchtete, die Beteiligten könnten sich wiedererkennen und düpiert fühlen.
»Die Gattung Mensch« ist also eine wahre Geschichte, aber sie ist mehr als ein Tatsachenbericht. Wie der Titel schon andeutet, geht es Antelme um die Frage, was das Gattungswesen Mensch ausmacht, wie es – mit einem Begriff des Philosophen Karl Jaspers – in einer »Grenzsituation« reagiert, wie es ein Verhältnis zu anderen aufbaut und wie es einen sozialen Zusammenhang stiftet. Die Geschichte des Brotraubs ist dafür exemplarisch.
Antelme war 1943 in die von François Mitterrand geführte Widerstandsgruppe MNPDG (Nationale Bewegung der Kriegsgefangenen und Deportierten) eingetreten und 1944 von der Gestapo verhaftet worden. Sein Leidensweg führte ihn erst in das KZ Buchenwald, dann in eines von dessen insgesamt 91 »Außenkommandos«, die entstanden, als die Rote Armee vorrückte. Ihn verschlug es ins niedersächsische Bad Gandersheim. Das dortige KZ war in der ehemaligen Klosterkirche Brunshausen untergebracht, nur fünf Minuten zu Fuß von einer Niederlassung der Ernst Heinkel Flugzeugwerke GmbH entfernt, wo die Häftlinge schuften mussten.
Solche Fabrikkommandos waren keine Vernichtungslager, dennoch starb ein Fünftel bis die Hälfte der dort Gefangenen, in Bad Gandersheim die meisten direkt vor und bei dem Todesmarsch, der am 4. April 1945 begann und auf den auch Antelme gezwungen wurde. Als ihn Mitterrand und andere Freunde in Dachau auffanden, wog er nur noch 35 Kilo. Ob er überleben würde, war wochenlang unsicher. Unmittelbar nach seiner Genesung schrieb er sein Buch, außerdem trat er der Kommunistischen Partei bei.
Ein hungernder Mithäftling klaute erst einem Blinden, dann auch anderen Brot aus der Büchse. Das ereignete sich in einem sozialen Raum zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit. Die das Lager führende SS hatte ihre harschen Gesetze aufgestellt; sie sahen eine völlige Unterwerfung der Arbeitssklaven vor. Was diese sich untereinander zuleide taten, kümmerte die Aufseher und die Kapos (Funktionshäftlinge) dagegen wenig, wenn es sie nicht sogar amüsierte. Unter vielen Gefangenen galt das Berauben eines Kameraden als unverzeihliches Verbrechen. Der um sein Brot gebrachte Blinde drückt es so aus: »Es gibt Kerle, die sagen: ›Das Brot eines Kumpels ist heilig‹, ich sage das nicht, aber ich würde lieber verrecken, als das Brot eines Freundes anzurühren!«
Wie aber einen entdeckten Dieb behandeln? Muss er aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, öffentlich gedemütigt, gar gezüchtigt werden? Das ist die Frage, um die der Text kreist, ohne sie beantworten zu können. Das Gesetz der SS verhinderte, dass die Häftlinge zu ihrem eigenen Gesetz, geschweige denn zu einer Gerechtigkeit fanden.
Der Versuch, ein Gesetz jenseits des Nazi-Gesetzes zu finden, bestimmt auch den zweiten Text, den Hayn in seinen Film aufgenommen hat. Kurz nach dem Krieg kam es in französischen Lagern zu Misshandlungen und sogar zu Tötungen von deutschen Kriegsgefangenen. Das wollte manchen Franzosen nicht gar so schlimm erscheinen, denn solche Grausamkeiten standen in keinem Verhältnis zu den deutschen. Im November 1945 erhob Robert Antelme dagegen Protest. Gerade die Erfahrung des KZ erlaube es nicht, eine »solche Karikatur des großen ›Vorbilds‹« gutzuheißen. Ein Mord lasse sich nicht mit einem andern abgelten. Im Namen seiner Leidensgenossen wandte er sich gegen die »Dummheiten der Rache«.
Das blieb nicht unwidersprochen. Ein linker Literaturkritiker namens Charles Eubé warf Antelme vor, er mache sich zum »Werkzeug« der Deutschen, die er im Übrigen für unbelehrbar hielt. Die Deutschen forderten für sich die Menschenwürde ein, die sie anderen nicht gewähren wollten. Um seinem Argument mehr Autorität zu verleihen, berief er sich unter anderem auf den 1942 hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfer Jacques Decour, der das üble Verhalten der Deutschen vorausgesagt habe. Doch das ist eine arge Verkürzung.
Tatsächlich hatte Decour, als das Münchner Abkommen 1938 geschlossen wurde, vorausgesehen, dass der Krieg kommen und seinen Tod wie den vieler anderer bringen werde. Aber in keinem Augenblick seines Lebens hat er unhistorisch und undifferenziert von »den Deutschen« gesprochen. Im Gegenteil ließ er sich auch von den Nazis nicht seine Liebe zu Goethe austreiben, den er noch in seinem Abschiedsbrief zitiert. Seine unbedingte Ablehnung der Nazis ging für ihn gerade aus der Wertschätzung der deutschen Kultur hervor (was einen Deutschen, der das heute liest, beschämen muss).
Weil ich vor einigen Jahren ein Buch von Decour übersetzt habe (»Philisterburg«, 1932), hat mich Stefan Hayn gebeten, in »Brot, Rache?« einiges von Robert Antelme vorzutragen. Über den Film, dessen Teil ich so geworden bin, darf ich deshalb nichts weiter sagen, nur so viel: Es war seltsam, dieses Zeugnis des Hungers durchzukauen und sich einzuverleiben – ein düsteres, karges Mahl, das umso mehr gibt, je weniger es verdaut werden kann. »Die Gattung Mensch« ist eines der stärksten und strengsten Bücher der neueren französischen Literatur, ein Buch wie kein zweites. Wer es noch nicht kennt, lese es.
Es war seltsam, dieses Zeugnis des Hungers durchzukauen und sich einzuverleiben – ein düsteres, karges Mahl, das umso mehr gibt, je weniger es verdaut werden kann.
»Brot, Rache?« von Stefan Hayn ist bei DOK Leipzig zu sehen am 1.11., 12.30 Uhr in den Passage-Kinos, Wintergarten und am 2.11., 10.30 Uhr in den Passage-Kinos, Universum.