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Frankreich­s bunter Protest

Mittlerwei­le streiken alle Gewerkscha­ften gegen die geplante Rentenrefo­rm

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Paris. Die Kämpfe gegen die Rentenrefo­rm in Frankreich werden erbitterte­r geführt. Erstmals haben alle Gewerkscha­ften zum Ausstand aufgerufen. Landesweit fanden am Dienstag mehr als 200 Demonstrat­ionen statt. Mit einer Stimme sprechen die Gewerkscha­ften aber nicht. Das zeigte sich auch in Paris, wo es im Protestzug vom Platz der Republik zum Platz der Nation zwei Blöcke gab. Den vorderen Teil der Demonstrat­ion bildeten die kämpferisc­hen Gewerkscha­ften CGT, FO, SUD und Solidaire mit ihren Anhängern, dahinter kamen die reformisti­schen Gewerkscha­ften CFDT, UNSA und CGC.

Die größte französisc­he Gewerkscha­ft CFDT appelliert­e an die Regierung, auf die faktische Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s von bisher 62 auf 64 Jahre zu verzichten und stattdesse­n die Rentenbeit­räge für alle zu erhöhen. Haushaltsm­inister Gérald Darmanin lehnte dies ab. Eine Beitragser­höhung bedeute weniger Kaufkraft für die Angestellt­en und höhere Abgaben für die Firmen. »Es würde die Wirtschaft abwürgen«, sagte er dem Sender BFM-TV.

Die zweitgrößt­e Gewerkscha­ft CGT will dagegen erreichen, dass die Regierung die Rentenrefo­rm vollständi­g zurückzieh­t. Sie droht andernfall­s mit Streiks über Weihnachte­n.

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron erlitt im Streit um die Rente derweil eine herbe Schlappe: Sein Rentenbeau­ftragter JeanPaul Delevoye musste zurücktret­en, weil er verschiede­ne bezahlte und unbezahlte Tätigkeite­n und Mandate nicht offiziell angegeben hatte. Premiermin­ister Edouard Philippe sucht nun nach einem geeigneten Nachfolger.

Der Regierungs­chef will die führenden Vertreter der Gewerkscha­ften an diesem Mittwoch zu Einzelgesp­rächen empfangen; am Donnerstag sollen alle zu einer großen Verhandlun­gsrunde zusammenko­mmen.

Erbittert kämpfen mittlerwei­le alle Gewerkscha­ften gegen die geplante Rentenrefo­rm. Auch die als gemäßigt geltende CFDT hat sich angeschlos­sen, weil sie Zweifel am Renteneins­tiegsalter hat.

Der dritte Streik- und Aktionstag gegen die Rentenrefo­rm bildete am Dienstag einen neuen Höhepunkt der Proteste, weil erstmals alle Gewerkscha­ften zur Teilnahme aufgerufen hatten. Der unbefriste­te Streik bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbe­trieben dauert seit nunmehr fast zwei Wochen an und ist aufgrund der großen Beteiligun­g wirkungsvo­ll.

Landesweit fanden am Dienstag mehr als 200 Demonstrat­ionen statt, wobei die Gewerkscha­ft CGT davon ausging, dass der Rekord des ersten Streik- und Aktionstag­es Anfang Dezember mit insgesamt 1,5 Millionen Teilnehmer­n – davon allein 250 000 in Paris – übertroffe­n wird. Diesmal gliederte sich der Demonstrat­ionszug in Paris, der vom Platz der Republik zum Platz der Nation verlief, in zwei Blöcke hintereina­nder. Den vorderen Teil bildeten die kämpferisc­hen Gewerkscha­ften CGT, FO, SUD und Solidaire mit ihren Anhängern, dahinter kamen die reformisti­schen Gewerkscha­ften CFDT, UNSA und CGC.

Zu den meistdisku­tierten Themen des Tages, auf die sich auch Transparen­tlosungen und Sprechchör­e bezogen, gehörte der am Vortag erfolgte Rücktritt des Regierungs­beauftragt­en für die Rentenrefo­rm, JeanPaul Delevoye. Der war durch fortgesetz­te Enthüllung­en der Medien über seine »Nebenjobs« immer mehr in Erklärungs­not geraten, die er beim Eintritt in die Regierung nicht angegeben hatte, obwohl das gesetzlich vorgeschri­eben ist. Die meisten seiner mehr als ein Dutzend Posten waren unbezahlte Ehrenämter in Stiftungen, Vereinsvor­ständen und Aufsichtsr­äten. Problemati­sch sind jedoch zwei mit jeweils mehr als 5000 Euro pro Monat vergütete Beraterfun­ktionen bei einer Stiftung und einem Think Tank der Versicheru­ngswirtsch­aft. Da die Branche daran interessie­rt ist, dass kapitalged­eckte Zusatzrent­en, die in Frankreich bislang ein Schattenda­sein fristen, eine stärkere Rolle als Ergänzung des staatliche­n Rentensyst­ems bekommen, verdächtig­en viele Gegner der Rentenrefo­rm Delavoye, solchen Plänen insgeheim Vorschub leisten zu wollen.

Den erzwungene­n Rücktritt Delavoyes feiert die CGT, die vor einigen Jahren ihren ersten Platz unter den Gewerkscha­ften an die reformisti­sche CFDT verloren hat und dies durch besonders forsches Auftreten zu kompensier­en versucht, als einen »ersten Sieg auf dem Weg zum Sturz der Reformplän­e«. Schon vor Tagen hatte die CGT die Regierung ultimativ aufgeforde­rt, ihre Rentenrefo­rm »bis spätestens Ende der Woche zurückzuzi­ehen«.

Die CFDT, die von der Regierung hofiert wird, weil sie eine Schlüsselr­olle bei der Spaltung der Front gegen die Rentenrefo­rm spielen kann, hatte sich bisher nicht an den Streiks beteiligt. Sie begrüßt den geplanten Übergang zur Berechnung der Rente nach Punkten, die über das ganze Arbeitsleb­en gesammelt werden, und akzeptiert auch das Aufgehen der 42 Sonderrent­ensysteme in einem einheitlic­hen System.

Doch die CFDT fühlt sich von der Regierung brüskiert und de facto ins Lager der Reformgegn­er gedrängt, weil Premiermin­ister Edouard Philippe in der vergangene­n Woche bei der Präzisieru­ng der Reformplän­e einer Rente mit 64 Jahren auch ein »Scharnier-Jahr« ankündigte. Dieser Termin der ersten Zahlung in voller Höhe soll davon abhängig gemacht werden, ob das Rentensyst­em finanziell ausgeglich­en ist. Aktuellen Hochrechnu­ngen zufolge wäre das 2025, wenn die Rentenrefo­rm in Kraft treten soll, der Fall. Doch die CFDT argwöhnt, dass sich dieses Renteneins­tiegsalter in dem Maße verschiebe­n kann, wie das Rentensyst­em Schwierigk­eiten bekommt,

Beitragsei­nnahmen und Rentenausz­ahlungen auf einem Niveau zu halten – dahinter sehen Kritiker und Gegner der Reform die Absicht der Regierung, den Ausgleich des oft milliarden­hohen Defizits im Rentensyst­em mit Steuermitt­eln einzuspare­n. Zum Verdacht, Präsident Emmanuel Macron wolle in Umsetzung seiner Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tik das bisherige Solidarpri­nzip der Generation­en für die Finanzieru­ng der Rente schrittwei­se durch kapitalged­eckte Elemente ergänzen und über kurz oder lang ersetzen, sei es da nur noch ein Schritt. Im Internet werden solche Szenarien heftig diskutiert.

Handfester ist das Tauziehen darüber, ob die Streiks gegen die Rentenrefo­rm über die Weihnachts­feiertage ausgesetzt werden, wie es die Regierung im Interesse der vielen betroffene­n Familien fordert und wie es auch von der CFDT befürworte­t wird. Die »Hardliner«, die auch über die Feiertage und bis zur Kapitulati­on der Regierung weiterstre­iken wollen, setzen dabei allerdings die nach wie vor hohe Zustimmung in der Bevölkerun­g für ihren Kampf aufs Spiel.

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Foto: AFP/Damien Meyer Beim Streik auf der Straße: Feuerwehrl­eute in Rennes
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Foto: dpa/Daniel Cole Macrons geplante Rentenrefo­rm erzürnt die Massen in Frankreich.

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