Mörderisch
Am 22. Juni 1941 saß ich in der Bibliothek der Moskauer Universität. Durchs Fenster sah ich, wie sich eine Menschentraube um den großen Lautsprecher vor unserem Institut bildete: »Hier spricht Radio Moskau ...!« Wir stürmten alle hinaus und erfuhren, dass deutsche Truppen in die Sowjetunion eingefallen sind. Wir waren schockiert – und doch optimistisch: Der Krieg wird nur ein paar Wochen dauern. Ein Irrtum. Im Oktober standen die Aggressoren vor Moskau. Ich trat in ein Arbeiterbataillon ein, dem auch Ingenieure und Studenten angehörten. Über die Wolokolamsker Chaussee marschierten wir stracks dem Feind entgegen.
Auf meinen weiteren Weg mit der Roten Armee gen Westen, mit der Waffe in der Hand und mit dem Flugblatt kämpfend, habe ich die Spuren grausamer Verbrechen von SS, Feldgendarmerie und Wehrmacht gesehen. In Istra, einem Vorort von Moskau, wo auch wir deutschen Emigrantenkinder herrliche Ferien verbracht hatten, entdeckten wir in einem Brunnen Kinderleichen. Und als wir Balta, eine Stadt in Moldawien, befreiten, erblickten wir in den Straßen und Gassen erschossene Juden.
All die schlimmen Erinnerungen, vor allem an den Anfang des Faschismus in Deutschland, kehren schmerzhaft zurück, wenn ich heute sehe und höre, wie sich rechtsradikales Gedankengut, Antisemitismus und Rassismus wieder ausbreiten und mörderische Früchte tragen. Nichts gelernt aus der Geschichte? Das lässt mich an der Vernunft der Menschen zweifeln. Von Finanzämtern Vernunft zu erwarten, mag naiv sein. Aber wer gab dem Berliner Finanzamt das Recht, der VVN-BdA die Gemeinnützigkeit abzuerkennen?
So vieles stimmt mich traurig. Insbesondere die Kriege weltweit. Und dass über Klimaschutz gestritten wird, obwohl der Schutz unserer Umwelt selbstverständlich sein sollte. Aber: Geld regiert die Welt. Nicht verhandelbar jedoch ist und bleibt der Antifaschismus! Meine Hoffnung sind die vielen jungen Menschen, die davon überzeugt sind und dafür streiten.
Prof. Moritz Mebel, Jg. 1923, arbeitete als international anerkannter Urologe an der Berliner Charité.