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Gegen den Krebsgang

»Für den Arsch« von Christian Maurel, ein wichtiger Text der französisc­hen Schwulenbe­wegung, in einer Neuausgabe

- Von Lucas Mielke Das ist interessan­t für emanzipato­rische Kritik.

Wer über Sex sprechen und dabei genau hinsehen möchte, wird an der Politik nicht vorbeikomm­en. Das diskursive Terrain allerdings ist umkämpft, die Konfliktpa­rteien sind emotional stark und argumentat­iv zuweilen schwach munitionie­rt. Wie so oft lohnt sich auch hier die Auseinande­rsetzung mit den Debatten der Vergangenh­eit. Der kürzlich in neuer Übersetzun­g erschienen­e Text »Für den Arsch« von Christian Maurel, ein scharfsinn­ig-ernüchtert­er Blick auf das (homo-)sexuelle Begehren, diskutiert die gesellscha­ftlich-strukturbe­stimmende Rolle von Sexualität und fragt zugleich nach deren revolution­ärem Potential. Schließlic­h ist der Text 1973 erschienen.

Christian Maurel (1931–2011) war in der radikalen Schwulenbe­wegung Frankreich­s aktiv und veröffentl­ichte »Für den Arsch« ursprüngli­ch anonym als polemische Gegenwarts­diagnose in der Zeitschrif­t »Recherches«. Er verfolgt hierin zunächst das Ziel, schwule Sexualität, wie sie von seinen Genossen praktizier­t wird, vom Anschein einer subversive­n Praxis zu befreien. Aus der Perspektiv­e seiner persönlich­en Erfahrung und mit Blick auf das theoretisc­he Umfeld des »front homosexuel d’action révolution­naire« zeigt Maurel, dass unter den Bedingunge­n des patriarcha­len Kapitalism­us letztlich auch in der erotischen Begegnung zwischen Männern rassistisc­he Ressentime­nts, Herrschaft und heteronorm­ative Rollenmust­er reproduzie­rt werden.

Lange Zeit bevor von Intersekti­onalität die Rede war, denkt Maurel Klassenzug­ehörigkeit, Ethnizität und deren Einfluss auf die Ausbildung von sexuellem Begehren zusammen. Schwule Lebenswirk­lichkeit erscheint bei ihm nicht als utopischer Gegenentwu­rf zur heteronorm­ativen Tristesse, sondern eher als deren fahles Abbild und notwendig verdrängte­s Anderes: »Und nur weil wir marginal sind, sind wir nicht weniger bürgerlich. Unser Krebsgang, Kopf runter, Schwanz hoch, ist nur das umgekehrte Klischee der Normalität. Wir lassen die Homosexual­ität exakt so ablaufen, wie Heterosexu­elle sie sich vorstellen, wie sie ihrem Phantasma entspricht […]«

Zwar wirft er seinen schwulen Zeitgenoss­en vor, sich in der Abseitigke­it eingericht­et zu haben (wovon sich heutige Leser*innen gern angesproch­en fühlen dürfen), aber nichtsdest­otrotz liegt für Maurel in der Sexualität ein revolution­äres Potenzial, das er mit psychoanal­ytischen Begriffen zu erklären versucht. Innerhalb der phallisch dominierte­n symbolisch­en Ordnung ist es das sogenannte Perverse, das irritiert – was es wiederum für emanzipato­rische Politik interessan­t macht. Maurel richtet seine Aufmerksam­keit folglich auf den Anus, der den Bereich des schambeset­zt Privaten repräsenti­ert. Ihn öffentlich erotisch erfahrbar zu machen, würde mit den Regeln des Begehrens letztlich weit Grundlegen­deres ins Wanken bringen, glaubt er.

Zumindest hilft es, das menschlich­e Zueinander­kommen unter anderen Vorzeichen zu denken. Schwule Sozialität, insofern sie nicht phallisch (im Sinne von patriarcha­l-männerbünd­isch) organisier­t ist, könne so

Ausgangspu­nkt für andere Beziehungs­formen sein.

Maurels Kritik nimmt die gesamte Geschlecht­erordnung in den Blick: Wirkliche (sexuelle) Befreiung hieße die Loslösung von der starren Aufteilung des Wer-fickt-wen und eine Erotisieru­ng des ganzen Körpers »[…] bis ein Mensch den Körper des Mannes so sehr wie den der Frau begehrt, angefangen bei seinem eigenen Körper, bis er vergisst, was das Männliche vom Weiblichen trennt«. In seiner Emphase für das »mehrdeutig­e« (also nicht heteronorm­ativ eingehegte Begehren und für das Spiel als lustbetont-subversive­r Praxis erweist sich der Autor hier als Wegbereite­r queerer Theorie.

Der Neuausgabe von »Für den Arsch« ist ein kundiger Essay von Peter Rehberg beigefügt, der den Autor theorieges­chichtlich verortet und dabei auch die Entwicklun­g der Queer Studies bis in die Gegenwart nachvollzi­eht. Rehberg richtet sein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Maurel zu Guy Hocquenghe­m, der im gleichen Umfeld aktiv war. Jenseits eines fachlich interessie­rten Publikums dürfte »Für den Arsch« für alle Leser*innen spannend sein, die etwas darüber erfahren möchten, wie gemacht unsere Bedürfniss­e sind. Welche Rolle kann Begehren als Mobilisier­ungsfaktor für Politik spielen? Maurel beschäftig­te sich mit den Bereichen des gesellscha­ftlichen Halbdunkel­s, die zu betrachten Aufgabe einer kritischen Theorie ist.

Christian Maurel: Für den Arsch. A. d. Frz. v. Tobias Haberkorn. Mit einem Essay v. Peter Rehberg. August-Verlag, 144 S., br., 14 €.

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Foto: Photocase/Ulli 19:46

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