Die wahren und die falschen Lügen
Ein neues Autorentheater: »Stunde der Hochstapler. Das Krull-Prinzip« von Alexander Eisenach am Berliner Ensemble
Treffen sich eine Philosophin, eine Psychoanalytikerin und eine Informatikerin, um die Frage des menschlichen Bewusstsein zu diskutieren. Das könnte nicht nur der Beginn eines guten Witzes sein, sondern auch die Beschreibung des neuesten Stückes von Alexander Eisenach.
Der 1984 geborene Autor und Regisseur hat am Berliner Ensemble »Stunde der Hochstapler. Das KrullPrinzip« selbst zur Uraufführung gebracht, nachdem er die Spielzeit in dem Theater am Schiffbauerdamm bereits mit einer Adaption von Thomas Manns »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« eröffnet hatte.
Eisenach steht für ein neues Autorentheater. In Stücken wie »Der Zorn der Wälder«, »Der kalte Hauch des Geldes« und »Die Entführung Europas« benutzte er Genres wie Western oder Krimi, die er mit Theorie und Kritik des Spätkapitalismus anreicherte. Das Ergebnis ist witzig und klug zugleich – ähnlich dem legendären Situationisten-Film »Can Dialectics Break Bricks?«, bei dem ein Kung-Fu-Film mit einer neuen Tonspur über Dialektik, Marxismus und Psychoanalyse versehen wurde.
Bei Eisenachs »Stunde der Hochstapler« treten die Genreanleihen zurück, das Stück ist ein Gespräch zwischen Wissenschaft, Kunst und Psychologie. Ein in sich zerrissenes Ideendrama über Lüge und Illusion. Die eher an Wissenschaftsprosa angelehnte Sprache des Stücks verwandeln die Schauspieler in eine Sprache fürs Publikum.
»Wann hat das angefangen, dass wir lügen?«, fragt Peter Moltzen ins Publikum. Die Antwort sucht Eisenach aber nicht – und das hebt ihn wohltuend von anderen gegenwärtigen Theaterproduktionen ab – bei Trump, Alt-Right oder im Internet, sondern er verhandelt den Gegenstand grundsätzlicher: Es beginnt in Vorzeiten. So wärmen sich Moltzen und Marc Oliver Schulze als Steinzeitmenschen am Feuer. Neben der Frage, ob Mammut besser als Carpaccio oder gegrillt genossen werden sollte, wird mal eben der Konstruktivismus diskutiert. Ist alles nur Einbildung? Auch das Mammut?
Ist es natürlich nicht. Aber über diese philosophische Hürde muss man springen, denn eine reine Objektivität
ohne die vermeintlich verunreinigende Wahrnehmung des Subjekts gibt es eben auch nicht. Klassischer Mammut-Talk halt.
Eine von Cynthia Macis gespielte Prophetin verspricht den vom Jagen und Sammeln geplagten Steinzeitbewohnern die Erlösung von der Materie schlechthin, eine Erlösungsfantasie, die man eher in den gläsernen Designerbüros des Silicon Valley vermuten würde. Die Prophetin steht in der oberen Etage eines hölzernen
Türmchens, ausgestattet mit einer Chaiselongue aus Leder, an der Wand ein Schaubild der Abstammungslehre (Bühne: Daniel Wollenzin). Die Anatomie des Menschen ist der Schlüssel zur Anatomie des Affen, nicht umgekehrt, bemerkte einst Marx. Ebenso blickt Eisenach auf die Vorzeit: nicht als Ursprung, sondern als ein Bild, das sich erst durch die Gegenwart aktualisiert.
Auf der Couch lümmelt Wolfgang Michael als mürrischer Kulturpessimist
im opulenten Morgenrock (überhaupt sind die Kostüme von Julia Wassner eine wahre Freude – wann hat man schon einmal Steinzeitmenschen im Fummel aus Glitzer und Fell gesehen?). Er ist im Gespräch mit einer Therapeutin, die sich – in Gestalt von Cordelia Wege – im Dunkel des Zuschauerraums befindet. Eine von hinten kommende Stimme ohne Körper, die Übertragung der psychoanalytischen Situation ins Theater.
Wege betritt dann im bodenlangen hellen Kleid die Bühne und zeigt, dass ihre Bühnenmonologe derzeit zu den besten und beeindruckendsten gehören, die man hierzulande sehen und hören kann. Wer das nicht glaubt, gehe ins Deutsche Theater und schaue, was sie dort mit Wolfram Lotz’ »Die Politiker« macht; das ist nämlich nahe an einem Wunder, passenderweise ihr Thema in »Stunde der Hochstapler«. Es ist überhaupt eine außerordentliche Ensembleleistung in Eisenachs Stück, die mit begeistertem Applaus gewürdigt wurde.
So zeigt Moltzen, dass er sich am Berliner Ensemble in die erste Reihe gespielt hat, was er mit einem Zitat seines unvergessenen Auftritts als Zahnarzt in »Die Entführung Europas« selbstbewusst demonstriert. Und die Lügen, wann hat das angefangen? Wahrscheinlich waren sie schon immer da. »Wir sind Hochstapler«, sagt das Stück. Die Fiktion ist notwendig, unumgänglich, unvermeidbar. Doch die Frage ihres Gebrauchs ist damit noch nicht berührt. Wollen wir die wahren Lügen der Kunst – oder die falschen der Ideologie? So klug und zugleich unterhaltsam wurde im Theater lange nicht mehr über die Welt und zugleich auch das Theater nachgedacht.
»Stunde der Hochstapler. Das KrullPrinzip«; nächste Aufführungen: 22., 23., 26. Dezember.