Taiwans Angst vor China
Präsidentin Tsai schien politisch am Ende, die Proteste in Hongkong machen sie zur Wahlfavoritin.
Dramatischer kann Wahlkampf kaum inszeniert werden: Im dritten TV-Duell der Präsidentschaftskandidat*innen in Taiwan las Amtsinhaberin Tsai Ing-wen aus einem Brief eines Hongkongers vor, der vor Strafverfolgung wegen seiner Beteiligung an den seit über einem halben Jahr andauernden Protesten gegen die dortige Regierung nach Taiwan geflüchtet war. »Wenn die junge Generation in Taiwan in 20 Jahren auf die Straße gehen muss, können es ihnen die Hongkonger nicht mehr vormachen, wie zu kämpfen ist«, heißt es in dem Brief. Mit Tränen und Blut geschrieben, nannte Tsai den Brief, und warb eindringlich darum, ihr die Stimme zu geben – so könne das demokratische und freie Leben in Taiwan weitergehen.
Mit ihrer Kampagne »Heute Hongkong, morgen Taiwan« hat Tsai Ing-wen den Nerv der Taiwaner getroffen. Nur knapp über ein Jahr ist es her, da schien das politische Schicksal der Präsidentin besiegelt. Bei den Regionalwahlen Ende 2018 erlitt ihre Demokratische Fortschrittspartei DPP eine krachende Niederlage, kurz darauf gab Tsai den Parteivorsitz ab. Kaum jemand glaubte, sie würde ihre Amtszeit bis zum Ende überstehen. Doch an diesem Samstag geht Tsai mit großem Vorsprung in die Präsidentschaftswahl, mittlerweile führt ihre DPP auch wieder in den Umfragen zu der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl.
Tsai tritt nicht immer mit so viel Dramatik auf. Bei einem Wahlkampftermin im Stadtteil Banqiao in Taipeh wird sie von etwa 1000 Anhänger*innen in einem Meer aus grünen Fahnen empfangen. Tsai lobt erst die Erfolge des hiesigen Abgeordneten, der die schlechte Parkplatzsituation im Stadtteil verbessert habe, lobt dann die sich von Quartal zu Quartal verbessernde Wirtschaft, dann die steigenden Steuereinnahmen. Nun könne mehr Geld für die Versorgung der wachsenden Zahl älterer Menschen ausgegeben werden werde und für die Jüngeren neue Kitas gebaut werden, damit die Eltern arbeiten könnten. Erst am Ende ruft Tsai alle auf, Taiwans Demokratie und Eigenständigkeit zu beschützen. Laut und mit schwenkenden Fahnen wird sie gefeiert. Auch von dem 22-jährigen Studenten Wilson: »Das wichtigste ist, dass sie unser Land beschützt. Sie muss die Wahl gewinnen. Wenn sie nicht gewinnt, war das vielleicht die letzte freie Wahl in Taiwan.«
Vor einem Jahr, im Umfragetief der Präsidentin, hatte Chinas Präsident Xi Jinping den Druck auf Taiwan erhöht. »Wir werden mit größter Ernsthaftigkeit die Wiedervereinigung anstreben. Wir geben kein Versprechen ab, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten und behalten uns die Option vor, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Der Mehrheit der Taiwaner ist völlig klar, dass eine Unabhängigkeit Taiwans nur zu einer schwerwiegenden Katastrophe führen kann«, drohte Xi. Ein Gesprächsangebot, mit Tsai über eine Regelung »Ein Land, zwei Systeme« zu verhandeln, wies Taiwans Präsidentin allerdings zurück.
Emanzipation von China
In den ersten Jahren ihrer Amtszeit verlor Tsai stark an Zustimmung. Vor allem eine missglückte Rentenreform sorgte für Verärgerung, vielen älteren Taiwaner*innen war aber auch ihre Abgrenzungspolitik zu China suspekt. Noch immer ist die Volksrepublik wirtschaftlich der wichtigste Partner, mit dem 40 Prozent des Außenhandels betrieben wird. Die DPP-Regierung versucht, den Handel mit anderen südostasiatischen Ländern auszubauen, um so der Abhängigkeit von China zu entgehen. In Peking wird das nicht gern gesehen, gleich nach Amtsantritt verschlechterte sich das Verhältnis zu China dramatisch: Peking kappte alle offiziellen Kanäle und verbot Festlandchinesen Individualreisen auf die Insel. Mit Militärmanövern in der Taiwanstraße und einem zweiten Flugzeugträgers demonstriert China seine Macht. In der Amtszeit Tsais gelang es Peking, sieben Staaten zur Aufgabe ihrer diplomatischen Beziehungen mit Taiwan zu bewegen – das Land wird mittlerweile nur noch von 15 Staaten anerkannt.
Den Jüngeren hingegen ging die Veränderung nicht schnell genug. Der von Tsai versprochene Umstieg auf regenerative Energien geht ihnen zu langsam. Vor allem die Beschlüsse, ein seit Jahrzehnten im Bau befindliches Atomkraftwerk fertigzustellen und auf indigenem Land Kohle fördern zu lassen, verärgerte viele. Auch die schleppende Umsetzung der versprochenen Ehe für alle ließ junge Taiwaner*innen, die große Hoffnung in Tsai und die DPP gesetzt hatten, zweifeln.
Doch das Blatt hat sich gewendet. Die Proteste in Hongkong wühlen auch die Menschen in Taiwan auf. Dabei hatte das Auslieferungsgesetz,
gegen das die Menschen zu Anfang demonstrierten, bevor sie sich gegen die Regierung, für freie Wahlen und gegen den sich ausbreitenden Einfluss Pekings auf die Sonderverwaltungszone richteten, seinen Ursprung in Taiwan. Hier hat ein Hongkonger im Urlaub seine schwangere Freundin umgebracht. Wegen einer fehlenden Auslieferungsvereinbarung kann er bis heute nicht nach Taiwan überstellt werden.
Viele der Protestierenden, die sich vor einer Anklage wegen Aufruhr und harten Strafen fürchten, sind mittlerweile nach Taiwan geflohen – unter anderen etwa 200 der Protestierenden, die im November eine Woche die Polytechnische Universität Hongkong besetzt hielten, sollen mittlerweile in Taiwan sein und, unterstützt von Universitäten und auch der Präsidentin, ihr Studium fortsetzen.
Unterstützung für Hongkong
Aus Hongkong gab es unterdessen Kritik an Tsai. Der Vorsitzende der Studierendenvereinigung der Hongkonger Baptist-Universität warf der taiwanischen Präsidentin im Dezember vor, die »Opfer der Hongkonger in Stimmen eintauschen« zu wollen. Tsai belasse es bei Unterstützungsfloskeln, ein Einwanderungsgesetz, das es Hongkongern vereinfachen würde nach Taiwan auszuwandern, komme seit Monaten nicht voran. Tsai wies die Vorwürfe zurück: Wer den Kandidat*innen zuhöre, wisse, wer sich für Hongkong einsetze. »Die Wahlen seien »ein Prozess der Selbstüberwachung durch die Menschen in Taiwan nach dem, was in Hongkong passiert ist«, sagt Tsai.
In der Bevölkerung gibt es weitreichende Unterstützung für die Protestbewegung in Hongkong. In der Nähe des Parlaments steht eine sogenannte Lennon-Wall: Taiwaner kleben auf sie, den Protestwänden in der einstigen britischen Kolonie nachempfindend, kleine gelben Notizzettel, auf denen sie ihre Unterstützung für Hongkong in Worte fassen. Gelb, die Farbe der Protestbewegung.
Aber die Unterstützung geht über gute Wünsche hinaus. Michelle Wu beispielsweise, Präsidentin der Nationalen Studierendenvereinigung Taiwans, organisiert Demonstrationen zur Unterstützung der Hongkonger Protestbewegung, hilft nach Taiwan geflohenen Hongkonger*innen und war selbst schon mit anderen Unterstützer*innen in
Hongkong. Dabei organisiert die 21-jährige Jurastudentin die Versorgung der Protestbewegung mit Ausrüstungsgegenständen wie neuen Helmen oder Gasmasken. »In Hongkong bekommt man nur Bauhelme, die sind nicht so stabil. Aber weil wir Taiwaner so viel Roller fahren, sind unsere Helme stabiler«, erzählt sie. Am Flughafen seien einige der Unterstützer deswegen schon stundenlang festgehalten worden. »Es gibt mittlerweile schwarze Listen, einige meiner Freunde stehen darauf.« In Umgang mit Hongkong sieht Wu den Beweis, dass der chinesischen Regierung nicht getraut werden kann. Schon gar nicht, wenn sie »Ein Land, zwei Systeme« auch auf Taiwan anwenden will.
Dass die zweite große Partei in Taiwan, die Kuomintang, auf mehr Dialog und Annäherung mit dem Festland setzt, ist ihrem Kandidaten Han Kuo-yu in der aufgewühlten Zeit nun eine große Bürde. Zwar hat sich Han, der bei der Regionalwahl 2018 in der DPP-Hochburg und zweitgrößten Stadt Taiwans Kaohsiung völlig unerwartet zum Bürgermeister gewählt wurde und nach einem rasanten Aufstieg nur ein halbes Jahr später zum Präsidentschaftskandidat gekürt wurde, mittlerweile auch hinter die Protestbewegung in Hongkong gestellt. Doch für viele kam das zu spät. Nicht vergessen haben sie seinen Besuch in der Vertretung der Volksrepublik in Hongkong – viele fürchten, dass er die Interessen Chinas vertritt.
Han verspricht Wachstum, inszeniert sich als Mann der anpackt, der die Sprache der normalen Leute spricht, wobei er sich so manches Mal sexistisch im Ton vergreift. Viele in Kaohsiung stört, dass er bereits nach nur einem halben Jahr im Amt sich auf ein anderes bewirbt. Auch weil der dritte Präsidentschaftskandidat, Politikveteran Soong Chu-yu von der Volksnahen Partei Han einige Stimmen abnehmen wird, dürfte sich der Bürgermeister schon bald wieder voll auf seine Arbeit in Kaohsiung widmen können. Bis dahin gilt es aber zumindest ein akzeptables Ergebnis bei der Parlamentswahl einzufahren.
Chinas Präsident Xi Jinping hat in seiner Neujahrsrede übrigens erstmals Taiwan mit keinem Wort erwähnt. In der aufgeheizten Stimmung wäre dies wohl nur eine Wahlhilfe für Präsidentin Tsai gewesen.
Der Konflikt zwischen China und Hongkong hat auch Einfluss auf Taiwan. Die Wahl am Samstag wird von den Jungen entschieden, die nur noch wenig mit der Volksrepublik verbindet.
»Tsai Ing-wen muss die Wahl gewinnen. Wenn sie nicht gewinnt, war das vielleicht die letzte freie Wahl in Taiwan.«
Wilson, Student
Die Recherche wurde im Rahmen einer Reise des Vereins »journalists.network« realisiert.