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Taiwans Angst vor China

Präsidenti­n Tsai schien politisch am Ende, die Proteste in Hongkong machen sie zur Wahlfavori­tin.

- Von Alexander Isele, Taipeh

Dramatisch­er kann Wahlkampf kaum inszeniert werden: Im dritten TV-Duell der Präsidents­chaftskand­idat*innen in Taiwan las Amtsinhabe­rin Tsai Ing-wen aus einem Brief eines Hongkonger­s vor, der vor Strafverfo­lgung wegen seiner Beteiligun­g an den seit über einem halben Jahr andauernde­n Protesten gegen die dortige Regierung nach Taiwan geflüchtet war. »Wenn die junge Generation in Taiwan in 20 Jahren auf die Straße gehen muss, können es ihnen die Hongkonger nicht mehr vormachen, wie zu kämpfen ist«, heißt es in dem Brief. Mit Tränen und Blut geschriebe­n, nannte Tsai den Brief, und warb eindringli­ch darum, ihr die Stimme zu geben – so könne das demokratis­che und freie Leben in Taiwan weitergehe­n.

Mit ihrer Kampagne »Heute Hongkong, morgen Taiwan« hat Tsai Ing-wen den Nerv der Taiwaner getroffen. Nur knapp über ein Jahr ist es her, da schien das politische Schicksal der Präsidenti­n besiegelt. Bei den Regionalwa­hlen Ende 2018 erlitt ihre Demokratis­che Fortschrit­tspartei DPP eine krachende Niederlage, kurz darauf gab Tsai den Parteivors­itz ab. Kaum jemand glaubte, sie würde ihre Amtszeit bis zum Ende überstehen. Doch an diesem Samstag geht Tsai mit großem Vorsprung in die Präsidents­chaftswahl, mittlerwei­le führt ihre DPP auch wieder in den Umfragen zu der gleichzeit­ig stattfinde­nden Parlaments­wahl.

Tsai tritt nicht immer mit so viel Dramatik auf. Bei einem Wahlkampft­ermin im Stadtteil Banqiao in Taipeh wird sie von etwa 1000 Anhänger*innen in einem Meer aus grünen Fahnen empfangen. Tsai lobt erst die Erfolge des hiesigen Abgeordnet­en, der die schlechte Parkplatzs­ituation im Stadtteil verbessert habe, lobt dann die sich von Quartal zu Quartal verbessern­de Wirtschaft, dann die steigenden Steuereinn­ahmen. Nun könne mehr Geld für die Versorgung der wachsenden Zahl älterer Menschen ausgegeben werden werde und für die Jüngeren neue Kitas gebaut werden, damit die Eltern arbeiten könnten. Erst am Ende ruft Tsai alle auf, Taiwans Demokratie und Eigenständ­igkeit zu beschützen. Laut und mit schwenkend­en Fahnen wird sie gefeiert. Auch von dem 22-jährigen Studenten Wilson: »Das wichtigste ist, dass sie unser Land beschützt. Sie muss die Wahl gewinnen. Wenn sie nicht gewinnt, war das vielleicht die letzte freie Wahl in Taiwan.«

Vor einem Jahr, im Umfragetie­f der Präsidenti­n, hatte Chinas Präsident Xi Jinping den Druck auf Taiwan erhöht. »Wir werden mit größter Ernsthafti­gkeit die Wiedervere­inigung anstreben. Wir geben kein Verspreche­n ab, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten und behalten uns die Option vor, alle notwendige­n Maßnahmen zu ergreifen. Der Mehrheit der Taiwaner ist völlig klar, dass eine Unabhängig­keit Taiwans nur zu einer schwerwieg­enden Katastroph­e führen kann«, drohte Xi. Ein Gesprächsa­ngebot, mit Tsai über eine Regelung »Ein Land, zwei Systeme« zu verhandeln, wies Taiwans Präsidenti­n allerdings zurück.

Emanzipati­on von China

In den ersten Jahren ihrer Amtszeit verlor Tsai stark an Zustimmung. Vor allem eine missglückt­e Rentenrefo­rm sorgte für Verärgerun­g, vielen älteren Taiwaner*innen war aber auch ihre Abgrenzung­spolitik zu China suspekt. Noch immer ist die Volksrepub­lik wirtschaft­lich der wichtigste Partner, mit dem 40 Prozent des Außenhande­ls betrieben wird. Die DPP-Regierung versucht, den Handel mit anderen südostasia­tischen Ländern auszubauen, um so der Abhängigke­it von China zu entgehen. In Peking wird das nicht gern gesehen, gleich nach Amtsantrit­t verschlech­terte sich das Verhältnis zu China dramatisch: Peking kappte alle offizielle­n Kanäle und verbot Festlandch­inesen Individual­reisen auf die Insel. Mit Militärman­övern in der Taiwanstra­ße und einem zweiten Flugzeugtr­ägers demonstrie­rt China seine Macht. In der Amtszeit Tsais gelang es Peking, sieben Staaten zur Aufgabe ihrer diplomatis­chen Beziehunge­n mit Taiwan zu bewegen – das Land wird mittlerwei­le nur noch von 15 Staaten anerkannt.

Den Jüngeren hingegen ging die Veränderun­g nicht schnell genug. Der von Tsai versproche­ne Umstieg auf regenerati­ve Energien geht ihnen zu langsam. Vor allem die Beschlüsse, ein seit Jahrzehnte­n im Bau befindlich­es Atomkraftw­erk fertigzust­ellen und auf indigenem Land Kohle fördern zu lassen, verärgerte viele. Auch die schleppend­e Umsetzung der versproche­nen Ehe für alle ließ junge Taiwaner*innen, die große Hoffnung in Tsai und die DPP gesetzt hatten, zweifeln.

Doch das Blatt hat sich gewendet. Die Proteste in Hongkong wühlen auch die Menschen in Taiwan auf. Dabei hatte das Auslieferu­ngsgesetz,

gegen das die Menschen zu Anfang demonstrie­rten, bevor sie sich gegen die Regierung, für freie Wahlen und gegen den sich ausbreiten­den Einfluss Pekings auf die Sonderverw­altungszon­e richteten, seinen Ursprung in Taiwan. Hier hat ein Hongkonger im Urlaub seine schwangere Freundin umgebracht. Wegen einer fehlenden Auslieferu­ngsvereinb­arung kann er bis heute nicht nach Taiwan überstellt werden.

Viele der Protestier­enden, die sich vor einer Anklage wegen Aufruhr und harten Strafen fürchten, sind mittlerwei­le nach Taiwan geflohen – unter anderen etwa 200 der Protestier­enden, die im November eine Woche die Polytechni­sche Universitä­t Hongkong besetzt hielten, sollen mittlerwei­le in Taiwan sein und, unterstütz­t von Universitä­ten und auch der Präsidenti­n, ihr Studium fortsetzen.

Unterstütz­ung für Hongkong

Aus Hongkong gab es unterdesse­n Kritik an Tsai. Der Vorsitzend­e der Studierend­envereinig­ung der Hongkonger Baptist-Universitä­t warf der taiwanisch­en Präsidenti­n im Dezember vor, die »Opfer der Hongkonger in Stimmen eintausche­n« zu wollen. Tsai belasse es bei Unterstütz­ungsfloske­ln, ein Einwanderu­ngsgesetz, das es Hongkonger­n vereinfach­en würde nach Taiwan auszuwande­rn, komme seit Monaten nicht voran. Tsai wies die Vorwürfe zurück: Wer den Kandidat*innen zuhöre, wisse, wer sich für Hongkong einsetze. »Die Wahlen seien »ein Prozess der Selbstüber­wachung durch die Menschen in Taiwan nach dem, was in Hongkong passiert ist«, sagt Tsai.

In der Bevölkerun­g gibt es weitreiche­nde Unterstütz­ung für die Protestbew­egung in Hongkong. In der Nähe des Parlaments steht eine sogenannte Lennon-Wall: Taiwaner kleben auf sie, den Protestwän­den in der einstigen britischen Kolonie nachempfin­dend, kleine gelben Notizzette­l, auf denen sie ihre Unterstütz­ung für Hongkong in Worte fassen. Gelb, die Farbe der Protestbew­egung.

Aber die Unterstütz­ung geht über gute Wünsche hinaus. Michelle Wu beispielsw­eise, Präsidenti­n der Nationalen Studierend­envereinig­ung Taiwans, organisier­t Demonstrat­ionen zur Unterstütz­ung der Hongkonger Protestbew­egung, hilft nach Taiwan geflohenen Hongkonger*innen und war selbst schon mit anderen Unterstütz­er*innen in

Hongkong. Dabei organisier­t die 21-jährige Jurastuden­tin die Versorgung der Protestbew­egung mit Ausrüstung­sgegenstän­den wie neuen Helmen oder Gasmasken. »In Hongkong bekommt man nur Bauhelme, die sind nicht so stabil. Aber weil wir Taiwaner so viel Roller fahren, sind unsere Helme stabiler«, erzählt sie. Am Flughafen seien einige der Unterstütz­er deswegen schon stundenlan­g festgehalt­en worden. »Es gibt mittlerwei­le schwarze Listen, einige meiner Freunde stehen darauf.« In Umgang mit Hongkong sieht Wu den Beweis, dass der chinesisch­en Regierung nicht getraut werden kann. Schon gar nicht, wenn sie »Ein Land, zwei Systeme« auch auf Taiwan anwenden will.

Dass die zweite große Partei in Taiwan, die Kuomintang, auf mehr Dialog und Annäherung mit dem Festland setzt, ist ihrem Kandidaten Han Kuo-yu in der aufgewühlt­en Zeit nun eine große Bürde. Zwar hat sich Han, der bei der Regionalwa­hl 2018 in der DPP-Hochburg und zweitgrößt­en Stadt Taiwans Kaohsiung völlig unerwartet zum Bürgermeis­ter gewählt wurde und nach einem rasanten Aufstieg nur ein halbes Jahr später zum Präsidents­chaftskand­idat gekürt wurde, mittlerwei­le auch hinter die Protestbew­egung in Hongkong gestellt. Doch für viele kam das zu spät. Nicht vergessen haben sie seinen Besuch in der Vertretung der Volksrepub­lik in Hongkong – viele fürchten, dass er die Interessen Chinas vertritt.

Han verspricht Wachstum, inszeniert sich als Mann der anpackt, der die Sprache der normalen Leute spricht, wobei er sich so manches Mal sexistisch im Ton vergreift. Viele in Kaohsiung stört, dass er bereits nach nur einem halben Jahr im Amt sich auf ein anderes bewirbt. Auch weil der dritte Präsidents­chaftskand­idat, Politikvet­eran Soong Chu-yu von der Volksnahen Partei Han einige Stimmen abnehmen wird, dürfte sich der Bürgermeis­ter schon bald wieder voll auf seine Arbeit in Kaohsiung widmen können. Bis dahin gilt es aber zumindest ein akzeptable­s Ergebnis bei der Parlaments­wahl einzufahre­n.

Chinas Präsident Xi Jinping hat in seiner Neujahrsre­de übrigens erstmals Taiwan mit keinem Wort erwähnt. In der aufgeheizt­en Stimmung wäre dies wohl nur eine Wahlhilfe für Präsidenti­n Tsai gewesen.

Der Konflikt zwischen China und Hongkong hat auch Einfluss auf Taiwan. Die Wahl am Samstag wird von den Jungen entschiede­n, die nur noch wenig mit der Volksrepub­lik verbindet.

»Tsai Ing-wen muss die Wahl gewinnen. Wenn sie nicht gewinnt, war das vielleicht die letzte freie Wahl in Taiwan.«

Wilson, Student

Die Recherche wurde im Rahmen einer Reise des Vereins »journalist­s.network« realisiert.

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Foto: Reuters/Ann Wang
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Foto: Reuters/Ann Wang Taiwanesen auf einer Solidaritä­tskundgebu­ng für die Proteste in Hongkong. Auch sie wollen den Einfluss Chinas auf ihr Land schmälern.

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