Null Promille?
Die Prohibition vor 100 Jahren hat gezeigt: Kein Alkohol ist auch keine Lösung.
Die Roaring Twenties in den Vereinigten Staaten waren voller Widersprüche. Zum einen können sie durchaus als Goldene Zwanziger gelten, in denen sich zum ersten Mal eine Konsum- und Wohlstandsgesellschaft herausbildete. Republikaner regierten im Weißen Haus: Warren G. Harding, Calvin Coolidge und Herbert Hoover. Sie ließen der Wirtschaft relativ freien Lauf. Neue Branchen wie die Automobil- und Elektroindustrie wuchsen rasant. Massenproduktion erlaubte Preissenkungen. Steuersenkungen ließen Konzernprofite um 63 Prozent wachsen. Die Reallöhne in der Industrie stiegen zwar ebenfalls, aber nur um magere sechs Prozent.
Kurz vor Beginn des neuen Jahrzehnts wurde 1919 der 18. Verfassungszusatz zum landesweiten Verbot von Herstellung, Verkauf und Konsum von Alkohol verabschiedet. In Kraft traten die Bestimmungen am 16. Januar 1920 um 24 Uhr.
Die Entscheidung zur Prohibition kam nicht aus dem Nichts. Verschiedene Temperenzbewegungen (Temperenz – vom lateinischen temperantia für Mäßigung) setzten sich dafür etwa seit den
1820er Jahren ein, zeitweilig erfolgreich: 1851 untersagte Maine als erster Bundesstaat Herstellung und Verkauf von »geistigen und berauschenden Getränken«. Zunächst schlossen sich weitere zwölf Staaten dem Gesetz an, fanden es aber in der Praxis nicht durchsetzbar und nahmen es vor 1860 wieder zurück. Weitere Versuche mit ähnlich begrenztem Erfolg gab es um die Wende zum 20. Jahrhundert.
Vereint gegen den Saloon als Hort allen Übels
Zu den Kräften, die ein solches Verbot letztendlich durchsetzten, gehörten nicht allein die üblichen Verdächtigen: die konservativen evangelikalen Kirchen. Im Süden der USA legitimierte die Prohibition Gesetze gegen die Gleichberechtigung der Schwarzen, im Osten befriedigte sie den Abscheu gegenüber den Saloons, dem Inbegriff unsittlichen Lebens. Schon in den frühen 1870er Jahren hatte die Frauenbewegung Women’s Crusade das häusliche Trinken aufs Korn genommen. Und da die eigenen Männer nicht zu Gegnern der Anti-Alkohol-Kampagne werden sollten, geriet bald auch von dieser Seite der Saloon als Hort allen Übels in den Fokus. Und später wurden Saloons als Einflussmaschine migrantischer Verbrecher – seit den 1880er Jahren waren damit vor allem Ost- und Südosteuropäer gemeint – auf die Politik dargestellt.
In den Jahren des 1. Weltkrieges verwandelte sich das Alkoholverbot vorübergehend in eine patriotische Pflicht: Treibstoff und Getreide sollten der Verteidigung des Landes dienen, das Militär kampfbereit gehalten werden. Deutsche und österreichische Brauereien sowie die angeschlossene Biergartenkultur in einigen Städten gerieten ins Visier: Ihnen wurde vorgeworfen, US-Kriegsanstrengungen zu sabotieren. Nach Kriegsende verschwand dieses Feindbild, um einer neuen Hysterie Platz zu machen: Jener um Anarchisten und Bolschewisten, die vor allem unter osteuropäischen Einwanderern vermutet wurden.
Schattenwirtschaft baute die Branche effektiv und rasch um
Die Richtung ist deutlich: Die Ideologie der Prohibition arbeitete sich vor allem am Trinken der anderen ab. Diese Analyse findet sich in »Amerikas große Ernüchterung«, einer Kulturgeschichte der Prohibition, die Thomas Welskopp 2010 vorlegte. Ein großartiges, gewichtiges und immer auch unterhaltsames Buch, in dem das Thema bis in die kleinsten Verästelungen seziert wird. Auch Fehlinterpretationen tritt der Verfasser, Historiker an der Universität Bielefeld, nach umfassendem Quellenstudium entschieden entgegen. Der Marxist Antonio Gramsci hatte zum Beispiel in seinen Gefängnisheften in einer kurzen Anmerkung bedauert, dass der Prohibitionismus »wegen der Opposition von noch rückständigen, marginalen Kräften gescheitert [sei], gewiss nicht wegen der Opposition von Industriellen und Arbeitern«.
Welskopp zieht ein anderes Fazit: Die Prohibition politisierte in den 20er Jahren die Einwanderer. Ihre Entscheidung, auf dem Schwarzmarkt mitzumischen, war auch eine Entscheidung für den gesellschaftlichen Aufstieg. In der Presse wurde durchaus bemerkt, dass jeder Gangster, der auf sich hielt, Wert auf gute Kleidung legte. Bald hatten zuvor diskriminierte ethnische Gruppen (aber nicht Schwarze und Asiaten) beachtlichen Anteil am Funktionieren der Schattenwirtschaft. Viele von ihnen erhielten durch den illegalen Massenkonsum der Wohlhabenden die Ressourcen dafür, selbst im US-amerikanischen Mainstream anzukommen.
Herstellung, Verkauf und Konsum von Alkohol veränderten sich durchaus in den 20er Jahren. Es war jedoch nicht so, dass das umfassende Verbot Produktion und Vertrieb gestoppt hätte. Stattdessen organisierte sich die ganze Branche neu, unter den Augen der Justiz und einer speziellen Verfolgungsbehörde.
»Prohibition ist besser als gar kein Alkohol«, fasste der Schauspieler und Komiker Will Rogers die Situation zusammen. Nach einem kurzen Absinken des Pro-Kopf-Verbrauchs von reinem Alkohol bis 1922 rekonstruierte die Schattenwirtschaft den Markt rasch und erfolgreich (ein Rückgang durch Verknappung und Besteuerung hatte schon 1916 eingesetzt). Die Ungleichheit der Einkommen, die in den 20er Jahren in den USA stark anstieg, spiegelt sich auch im Alkoholkonsum: Die wohlhabenden Kreise waren bereit, mehr Geld für ihre Drinks auszugeben als vor dem Krieg. Arbeiter konnten sich die horrenden Preise nicht leisten. Der Gesamtkonsum alkoholischer Getränke sank um ein Drittel, wobei ein kleiner Teil der Bevölkerung mehr verbrauchte (und mehr zahlte). Die Mehrheit konnte das aus wirtschaftlichen Gründen nicht.
Quelle für den nun deutlich schlechteren Trinkalkohol waren entgegen der Folklore nur in sehr geringem Maße der Schmuggel aus Nachbarländern oder etwa Schottland und Irland. Die grenzüberschreitenden Aktivitäten sollten unter anderem die Illusion stärken, dass der Schwarzmarkt Qualität liefern könne. Gepanscht, verschnitten und gestreckt wurde jedoch ohne Hemmungen, zum Beispiel auch der trinkbare Alkohol, der zum Start der Prohibition vorhanden war. Diese Getränke wurden in Lagerhäusern konzentriert, die unter Zollverschluss standen. 1922 waren das 38 Millionen Gallonen (etwa 145 Millionen Liter) unverschnittener Alkohol. Es gab zwei legale Zugänge zu diesem Reservoir: Krankenhäuser und Ärzte konnten den Stoff als Medizin verschreiben und religiösen Gemeinden war ritueller Wein erlaubt. Wie von Zauberhand vervielfachten sich so Anfang der 20er Jahre die Diagnosen, bei denen mit Alkohol kuriert werden konnte. Besonders beliebt waren Whisky-Rezepte. In New York und Illinois kam auf je drei Einwohner ein Alkoholrezept im Jahr. Auch eine Menge neu benannter Rabbiner widmete sich einem einträglichen Nebengeschäft mit »sakramentalen« Flüssigkeiten wie Champagner, Likören oder Gin. Eine weitere Quelle für die Schattenwirtschaft war systematisch abgezweigter Industriealkohol.
Ein Politikwechsel erforderte Steuereinnahmen
Insgesamt entwickelte sich jedoch die illegale Eigenproduktion im Inland als wichtigster Versorger für den Markt. Sowohl in den Haushalten als auch in Klein-, Mittel- und Großbetrieben wurde schwarz gebrannt. Die US-Regierung schätzte, dass 1931 in der Schattenwirtschaft rund eine Million Personen beschäftigt waren, doppelt so viele wie in Gastronomie und Alkoholherstellung vor 1919. Sie erzielten einen jährlichen Umsatz von etwa zwei Milliarden Dollar. Unter dem Strich stärkte die Verbotspolitik die organisierte Kriminalität und führte zum Absinken der Qualität der einschlägigen Getränke.
Die Kosten für den Vertrieb und die Tarnung der Geschäfte waren hoch. Weder Washington noch die Bundesstaaten hatten ausreichend Mittel, die Prohibition in der Fläche durchzusetzen. Schon Ende der 1920er Jahre warben auch deshalb immer mehr Stimmen für ihre Aufhebung.
Mit dem 21. Zusatzartikel zur Verfassung wurde 1933 die Entscheidung von 1919 wieder rückgängig gemacht. Die 13 mehr oder weniger trockenen Jahre brachten für den Bund einen steuerlichen Verlust von etwa zwölf Milliarden Dollar, den Einzelstaaten noch einmal 6,5 Milliarden. Die staatlichen Aufwendungen zur Durchsetzung der großen Drainage kosteten insgesamt knapp 140 Millionen Dollar. Zusätzliche Zuschläge von 153 Millionen Dollar stärkten die Küstenwache, 93 Millionen kamen für den Zoll hinzu. Zu dieser negativen Bilanz kamen nun noch die Weltwirtschaftskrise, das Einbrechen des Welthandels und eine Arbeitslosigkeit von fast 25 Prozent im Jahr 1933. Für einen Politikwechsel wurde jede Steuereinnahme gebraucht: So startete der demokratische Präsident Franklin D. Roosevelt eine Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen, später »New Deal« genannt, darunter die Einführung von Sozialversicherungen oder Nothilfen für die Ärmsten.
Die Prohibition politisierte in den 20er Jahren die Einwanderer. Ihre Entscheidung, auf dem Schwarzmarkt mitzumischen, war auch eine Entscheidung für den gesellschaftlichen Aufstieg. Bald hatten zuvor diskriminierte ethnische Gruppen beachtlichen Anteil am Funktionieren der Schattenwirtschaft.