Sozialer Zensus
In Berlin fehlen derzeit 100 000 Wohnungen. Jetzt sollen Obdachlose gezählt werden. Doch geht das überhaupt?
Wir wollen nicht nur zählen, wir wollen zeigen: Obdachlose Menschen gehören zu dieser Stadt, und wir heißen sie auch willkommen«, erklärt Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE) zur Nacht der Solidarität. »Auch die Obdachlosen sind Teil dieser Stadtgesellschaft, und diese Stadtgesellschaft übernimmt Verantwortung füreinander. Wir sind solidarisch mit den Menschen, die in prekären Lebenssituationen sind«, so die Senatorin weiter. Bei vielen verschiedenen Gelegenheiten hat sie in den vergangenen Monaten für die Nacht der Solidarität geworben. Mit Erfolg: Über 3700 Freiwillige werden sich in zweieinhalb Wochen, in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar, zwischen 22 Uhr und 2 Uhr auf den Weg durch das nächtliche Berlin machen, um die Zahl der Obdachlosen in der Hauptstadt zu ermitteln. In gemischtgeschlechtlichen Teams mit mindestens drei Mitgliedern werden etwa 1000 Kleingruppen auf einer ihnen vorgegebenen »Zählstrecke« unterwegs sein.
»Die Nacht der Solidarität findet statt, weil wir wissen wollen: Wo leben in dieser Stadt Menschen auf der Straße, wo kommen sie her, wie viele davon sind Männer, wie viele Frauen?«, erläutert Breitenbach. Bisher existieren nur grobe Schätzungen zur Zahl der Menschen, die in Berlin auf der Straße leben. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand. Demnach gibt es in der Hauptstadt zwischen 4000 und 10 000 Obdachlose, einige gehen sogar von bis zu 20 000 aus. Auf der Grundlage der Ergebnisse aus der Nacht der Solidarität werde Berlin »seine Hilfs- und Beratungsangebote für diese Menschen anpassen«, heißt es aus der Senatsverwaltung.
Die obdachlosen Menschen werden dafür kurz zu Geschlecht, Alter, Herkunft, Dauer ihrer Wohnungslosigkeit und Haushaltsstatus befragt, also ob sie allein, mit oder ohne Kinder oder in einer Partnerschaft leben. Dabei
gilt für die Freiwilligen ein Verhaltenskodex, auf dessen Einhaltung nicht zuletzt die Teamleiter*innen – Personen, die extra eine Schulung für die Nacht der Solidarität erhalten haben – achten müssen: »Wir respektieren die Privatsphäre der obdachlosen Menschen! Es werden keine Fotos gemacht! Niemand wird in der Nacht geweckt!« Die Befragung findet freiwillig und anonym statt. Sie soll regelmäßig – am besten jährlich – wiederholt werden.
Auch Jan Markowiak wird in der vorletzten Januarnacht auf der Straße sein, als »Zähler«, wie er es nennt. »Wenn ich jemanden kenne, dann will ich ihn fragen, wie es ihm geht«, sagt der 70-Jährige mit einem Lächeln. Markowiak arbeitet ehrenamtlich
»Wir wollen nicht nur zählen, wir wollen zeigen: Obdachlose Menschen gehören zu dieser Stadt, und wir heißen sie auch willkommen.«
Elke Breitenbach (LINKE), Sozialsenatorin
im Verein »Unter Druck – Kultur von der Straße«. Der Verein betreibt in Berlin zwei Projekte, einen sozialkulturellen Treffpunkt für Wohnungslose in der Oudenarder Straße 26 in Wedding und den Zweckbetrieb »Czentrifuga«, eine kleine Siebdruckwerkstatt, am Markgrafendamm 24c in Lichtenberg. Im Treffpunkt gibt es eine Sozialberatung, einen Cafébetrieb, Wasch- und Duschmöglichkeiten und, während der Wintermonate, das Nachtcafé. Der Grundgedanke von »Unter Druck« ist »Hilfe zur Selbsthilfe«. Wohnungslose, sozial ausgegrenzte Menschen und
Menschen am Existenzminimum sollen hier auch einen Raum für ihre Ideen finden und sich darüber austauschen. Dafür gibt es Lesungen, Ausstellungen, Konzerte und auch eine aktive Theatergruppe.
Im Café von »Unter Druck« werden in der Nacht der Solidarität warme Getränke und Snacks für die freiwilligen Zähler*innen und die Obdachlosen bereitgestellt. Auch LiveMusik soll es geben. Die Menschen, die hierher kommen, werden hier, wie in allen anderen niedrigschwelligen Einrichtungen, an denen sich Obdachlose aufhalten, in mehrsprachigen Flyern über die Obdachlosenzählung informiert.
»Unter Druck«, erzählt Markowiak leise, habe ihm vor 20 Jahren, als er selbst wohnungslos wurde, die Unterstützung geboten, die er brauchte. Er habe im Treffpunkt, der damals noch in der Wollankstraße in Pankow angesiedelt war, alle zwei Tage duschen und in der Kleiderkammer seine Kleidung wechseln können. Auch ein tägliches Frühstück und etwas Warmes zu Mittag bekam er dort. »Die Nächte im Winter habe ich in Nachtcafés verbracht. Ich konnte gut auf der Isomatte schlafen – es gibt Decken, manchmal sogar Bettwäsche«, berichtet er. Er habe bei alldem immer versucht, »auf sich zu achten«, erinnert er sich. »Man kann alles verlieren, aber seinen Stolz sollte man nicht verlieren«, betont er.
Wie schwer das ist, weiß er selbst. Ein Großteil der Menschen auf der Straße sei traumatisiert. »Wenn man viel Schlechtes erfährt, sind die Nerven krank«, beschreibt es Markowiak. Für viele Betroffene sei es deshalb auch so schwer, in Notunterkünften zu schlafen. »Die Stimmung ist angespannt. Kranke Menschen sind anstrengend, manche schreien herum, andere haben Angst um ihre Sachen.« Diesen Stress könnten viele Betroffene nicht auf sich nehmen und suchten sich daher lieber ihre eigenen Plätze.
Aus diesem Grund sind auch die zur Verfügung stehenden Notübernachtungsplätze selten ausgelastet. Die Kältehilfe meldete am Donnerstag, dass in der vergangenen Woche von 1134 Plätzen nur 856 in Anspruch genommen wurden – 278 Plätze blieben also frei. »Viele verstecken sich«, sagt Markowiak, »keiner weiß, wie viele es sind.« Andere kämen irgendwo unter. Es gebe Menschen, die anderen Obdach anbieten und dann deshalb gekündigt werden, erzählt er – harte Konsequenzen praktischer Solidarität.
In der Nacht der Solidarität werden Obdachlose ausschließlich im öffentlichen Raum gezählt. Menschen, die sich auf privaten Grundstücken aufhalten, gehen nicht in die Statistik ein. Privatgrund soll von den Freiwilligen vor allem aus Sicherheitsgründen nicht betreten werden.
Jan Markowiak lebt seit zehn Jahren wieder in einer eigenen Wohnung. Für die Belange von Wohnungslosen einzutreten, ist aber sein Hauptanliegen geblieben. Täglich ist er im Treffpunkt bei »Unter Druck« anzutreffen, wo er weiterhin in der Theatergruppe spielt. Vor einem Jahr ist der kleine vitale Mann dem »Wohnungslosenparlament in Gründung« beigetreten, das Betroffenen helfen will, sich zu organisieren und Forderungen an die Politik zu stellen. Dieses nimmt die Nacht der Solidarität zum Anlass, vom 29. bis 30. Januar eine Mahnwache vor dem Roten Rathaus abzuhalten. Dort soll an die Menschen erinnert werden, für die es keine offizielle Statistik gibt: Kältetote, Opfer von Zwangsräumungen, Menschen, die aufgrund ihrer Situation Suizid begehen. Unter dem Motto »Zwangsräumungen verhindern – Vorher helfen!« sollen die politisch Verantwortlichen der Berliner Landesregierung aber vor allem daran erinnert werden, dass Artikel 28 der Landesverfassung – »Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum« – endlich umgesetzt werden muss.