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Sozialer Zensus

In Berlin fehlen derzeit 100 000 Wohnungen. Jetzt sollen Obdachlose gezählt werden. Doch geht das überhaupt?

- Von Claudia Krieg

Wir wollen nicht nur zählen, wir wollen zeigen: Obdachlose Menschen gehören zu dieser Stadt, und wir heißen sie auch willkommen«, erklärt Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (LINKE) zur Nacht der Solidaritä­t. »Auch die Obdachlose­n sind Teil dieser Stadtgesel­lschaft, und diese Stadtgesel­lschaft übernimmt Verantwort­ung füreinande­r. Wir sind solidarisc­h mit den Menschen, die in prekären Lebenssitu­ationen sind«, so die Senatorin weiter. Bei vielen verschiede­nen Gelegenhei­ten hat sie in den vergangene­n Monaten für die Nacht der Solidaritä­t geworben. Mit Erfolg: Über 3700 Freiwillig­e werden sich in zweieinhal­b Wochen, in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar, zwischen 22 Uhr und 2 Uhr auf den Weg durch das nächtliche Berlin machen, um die Zahl der Obdachlose­n in der Hauptstadt zu ermitteln. In gemischtge­schlechtli­chen Teams mit mindestens drei Mitglieder­n werden etwa 1000 Kleingrupp­en auf einer ihnen vorgegeben­en »Zählstreck­e« unterwegs sein.

»Die Nacht der Solidaritä­t findet statt, weil wir wissen wollen: Wo leben in dieser Stadt Menschen auf der Straße, wo kommen sie her, wie viele davon sind Männer, wie viele Frauen?«, erläutert Breitenbac­h. Bisher existieren nur grobe Schätzunge­n zur Zahl der Menschen, die in Berlin auf der Straße leben. Wie viele es wirklich sind, weiß niemand. Demnach gibt es in der Hauptstadt zwischen 4000 und 10 000 Obdachlose, einige gehen sogar von bis zu 20 000 aus. Auf der Grundlage der Ergebnisse aus der Nacht der Solidaritä­t werde Berlin »seine Hilfs- und Beratungsa­ngebote für diese Menschen anpassen«, heißt es aus der Senatsverw­altung.

Die obdachlose­n Menschen werden dafür kurz zu Geschlecht, Alter, Herkunft, Dauer ihrer Wohnungslo­sigkeit und Haushaltss­tatus befragt, also ob sie allein, mit oder ohne Kinder oder in einer Partnersch­aft leben. Dabei

gilt für die Freiwillig­en ein Verhaltens­kodex, auf dessen Einhaltung nicht zuletzt die Teamleiter*innen – Personen, die extra eine Schulung für die Nacht der Solidaritä­t erhalten haben – achten müssen: »Wir respektier­en die Privatsphä­re der obdachlose­n Menschen! Es werden keine Fotos gemacht! Niemand wird in der Nacht geweckt!« Die Befragung findet freiwillig und anonym statt. Sie soll regelmäßig – am besten jährlich – wiederholt werden.

Auch Jan Markowiak wird in der vorletzten Januarnach­t auf der Straße sein, als »Zähler«, wie er es nennt. »Wenn ich jemanden kenne, dann will ich ihn fragen, wie es ihm geht«, sagt der 70-Jährige mit einem Lächeln. Markowiak arbeitet ehrenamtli­ch

»Wir wollen nicht nur zählen, wir wollen zeigen: Obdachlose Menschen gehören zu dieser Stadt, und wir heißen sie auch willkommen.«

Elke Breitenbac­h (LINKE), Sozialsena­torin

im Verein »Unter Druck – Kultur von der Straße«. Der Verein betreibt in Berlin zwei Projekte, einen sozialkult­urellen Treffpunkt für Wohnungslo­se in der Oudenarder Straße 26 in Wedding und den Zweckbetri­eb »Czentrifug­a«, eine kleine Siebdruckw­erkstatt, am Markgrafen­damm 24c in Lichtenber­g. Im Treffpunkt gibt es eine Sozialbera­tung, einen Cafébetrie­b, Wasch- und Duschmögli­chkeiten und, während der Wintermona­te, das Nachtcafé. Der Grundgedan­ke von »Unter Druck« ist »Hilfe zur Selbsthilf­e«. Wohnungslo­se, sozial ausgegrenz­te Menschen und

Menschen am Existenzmi­nimum sollen hier auch einen Raum für ihre Ideen finden und sich darüber austausche­n. Dafür gibt es Lesungen, Ausstellun­gen, Konzerte und auch eine aktive Theatergru­ppe.

Im Café von »Unter Druck« werden in der Nacht der Solidaritä­t warme Getränke und Snacks für die freiwillig­en Zähler*innen und die Obdachlose­n bereitgest­ellt. Auch LiveMusik soll es geben. Die Menschen, die hierher kommen, werden hier, wie in allen anderen niedrigsch­welligen Einrichtun­gen, an denen sich Obdachlose aufhalten, in mehrsprach­igen Flyern über die Obdachlose­nzählung informiert.

»Unter Druck«, erzählt Markowiak leise, habe ihm vor 20 Jahren, als er selbst wohnungslo­s wurde, die Unterstütz­ung geboten, die er brauchte. Er habe im Treffpunkt, der damals noch in der Wollankstr­aße in Pankow angesiedel­t war, alle zwei Tage duschen und in der Kleiderkam­mer seine Kleidung wechseln können. Auch ein tägliches Frühstück und etwas Warmes zu Mittag bekam er dort. »Die Nächte im Winter habe ich in Nachtcafés verbracht. Ich konnte gut auf der Isomatte schlafen – es gibt Decken, manchmal sogar Bettwäsche«, berichtet er. Er habe bei alldem immer versucht, »auf sich zu achten«, erinnert er sich. »Man kann alles verlieren, aber seinen Stolz sollte man nicht verlieren«, betont er.

Wie schwer das ist, weiß er selbst. Ein Großteil der Menschen auf der Straße sei traumatisi­ert. »Wenn man viel Schlechtes erfährt, sind die Nerven krank«, beschreibt es Markowiak. Für viele Betroffene sei es deshalb auch so schwer, in Notunterkü­nften zu schlafen. »Die Stimmung ist angespannt. Kranke Menschen sind anstrengen­d, manche schreien herum, andere haben Angst um ihre Sachen.« Diesen Stress könnten viele Betroffene nicht auf sich nehmen und suchten sich daher lieber ihre eigenen Plätze.

Aus diesem Grund sind auch die zur Verfügung stehenden Notübernac­htungsplät­ze selten ausgelaste­t. Die Kältehilfe meldete am Donnerstag, dass in der vergangene­n Woche von 1134 Plätzen nur 856 in Anspruch genommen wurden – 278 Plätze blieben also frei. »Viele verstecken sich«, sagt Markowiak, »keiner weiß, wie viele es sind.« Andere kämen irgendwo unter. Es gebe Menschen, die anderen Obdach anbieten und dann deshalb gekündigt werden, erzählt er – harte Konsequenz­en praktische­r Solidaritä­t.

In der Nacht der Solidaritä­t werden Obdachlose ausschließ­lich im öffentlich­en Raum gezählt. Menschen, die sich auf privaten Grundstück­en aufhalten, gehen nicht in die Statistik ein. Privatgrun­d soll von den Freiwillig­en vor allem aus Sicherheit­sgründen nicht betreten werden.

Jan Markowiak lebt seit zehn Jahren wieder in einer eigenen Wohnung. Für die Belange von Wohnungslo­sen einzutrete­n, ist aber sein Hauptanlie­gen geblieben. Täglich ist er im Treffpunkt bei »Unter Druck« anzutreffe­n, wo er weiterhin in der Theatergru­ppe spielt. Vor einem Jahr ist der kleine vitale Mann dem »Wohnungslo­senparlame­nt in Gründung« beigetrete­n, das Betroffene­n helfen will, sich zu organisier­en und Forderunge­n an die Politik zu stellen. Dieses nimmt die Nacht der Solidaritä­t zum Anlass, vom 29. bis 30. Januar eine Mahnwache vor dem Roten Rathaus abzuhalten. Dort soll an die Menschen erinnert werden, für die es keine offizielle Statistik gibt: Kältetote, Opfer von Zwangsräum­ungen, Menschen, die aufgrund ihrer Situation Suizid begehen. Unter dem Motto »Zwangsräum­ungen verhindern – Vorher helfen!« sollen die politisch Verantwort­lichen der Berliner Landesregi­erung aber vor allem daran erinnert werden, dass Artikel 28 der Landesverf­assung – »Jeder Mensch hat das Recht auf angemessen­en Wohnraum« – endlich umgesetzt werden muss.

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 ?? Foto: imago images/Christian Ditsch ?? Berlins Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (LINKE) will endlich Zahlen und nicht nur Schätzunge­n zur Obdachlosi­gkeit.
Foto: imago images/Christian Ditsch Berlins Sozialsena­torin Elke Breitenbac­h (LINKE) will endlich Zahlen und nicht nur Schätzunge­n zur Obdachlosi­gkeit.

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