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176 Tote. Eine Hoffnung?

Von René Heilig Die getöteten Passagiere sind wohl Opfer der Fast-Krieg-Hysterie geworden.

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Hat Irans Flugabwehr eine ukrainisch­e Boeing abgeschoss­en? Die Regierunge­n Kanadas, Großbritan­niens, Australien­s und der USA gehen davon aus. Die Länder sind im »Five Eyes«-Geheimdien­stVerbund vereint. So wurde das, was US-Satelliten und -Drohnen am Dienstag kurz nach dem Start der Passagierm­aschine vom Teheraner Khomeini-Airport aufzeichne­ten, auf kurzem Weg weitergere­icht. Bereits bevor der kanadische Premier Justin Trudeau am Donnerstag­nachmittag (Ortszeit) den Verdacht öffentlich machte, hatte US-Präsident Donald Trump angedeutet, dass da wohl jemand »einen Fehler« gemacht habe. Er meinte vermutlich die Besatzung eines »Tor«-Flugabwehr­systems, das – wie die gesamte iranische Streitmach­t – in jener Nacht einen Angriff von USTruppen erwartete. Nicht grundlos, denn kurz vor dem Crash der Zivilmasch­ine hatte Iran Raketen auf einen US-Stützpunkt in Irak abgefeuert. Als Rache dafür, dass die USA Teherans »Heldengene­ral« Soleimani »vom Platz genommen« hatten.

Die 176 Passagiere, viele auf dem Weg nach Kanada, sind also vermutlich Opfer einer seit Jahrzehnte­n andauernde­n Fast-KriegHyste­rie geworden. Sie erlitten dasselbe Schicksal wie 290 Insassen einer Iran-Air-Maschine, die 1988 versehentl­ich von der US-Navy abgeschoss­en wurde. So pervers es klingen mag – dass die aktuelle Situation nicht zu erneutem blutigem Gemetzel führte, birgt einen Funken Hoffnung. Im Gegensatz zu der Spontanpol­itik Washington­s verfolgt Teheran in der Kriegs- und Krisenregi­on eine erkennbare Machtstrat­egie. Durchaus erfolgreic­h. Nicht zuletzt durch sein Anti-IS-Engagement hält Iran Schlüsselp­ositionen in Irak besetzt, ist in Syrien Ordnungsma­cht. In Libanon geschieht nichts ohne iranischen Einfluss. Dass Hisbollah oder Hamas jetzt nicht blind vor Rache gegen den US-Verbündete­n Israel losschluge­n, zeigt, wie kurz die Leine ist, an der Iran Hilfstrupp­en führen kann. So oder so. Mit Attacken auf saudische Ölraffiner­ien sowie in Jemen hat man ohne Selbstüber­schätzung mit minimalem Aufwand seine militärisc­he Reichweite gezeigt. Nach jüngsten blutigen Unruhen im Innern herrscht wieder Ruhe in der Diktatur. Man ist – dank US-Drohnenmor­d – »ein Volk«. Ohne dass Hardliner Oberwasser gewinnen konnten. Kurzum, trotzdem die Atomzentri­fugen schneller laufen, bietet sich die Regionalma­cht Iran gerade jetzt als Gesprächsp­artner an.

Kann das Trump begreifen? Wird er tatsächlic­h – wie seiner heimischen Klientel mehrfach versproche­n – Truppen zurückzieh­en? Gibt er, da mit der EU als Ganzes nicht zu rechnen ist, Deutschlan­d, Frankreich, Großbritan­nien, also drei Signatarmä­chten des vom Trump gekündigte­n Iran-Atomabkomm­ens, ein Placet zu Gesprächen? Die deutsche Kanzlerin tut gut daran, am Wochenende in Moskau Gemeinsamk­eiten mit Moskau auszuloten. Keiner weiß, wie lange das Fenster für Vernunft angekippt bleibt. Es mag zynisch erscheinen: Keiner der politische­n Akteure hat ein Interesse, dass der versehentl­iche Flugzeugab­schuss zur Hürde für neue Kontakte wird. Wohl aber ist das Gegenteil denkbar. Niemand sollte – wie beim Abschuss von Flug MH 17 über der Ostukraine – versuchen, Aufklärung politische­n Zielen anzupassen.

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