nd.DerTag

Was habe ich mit Oury Jalloh zu tun?

Wie Rassismus Herzen kolonialis­iert.

- Von Mesut Bayraktar

Vor 15 Jahren, am 7. Januar 2005, in einer Gewahrsams­zelle im Keller des Dienstgebä­udes an der Wolfgangst­raße 25 in Dessau: Sie legen ihm Handschell­en an, fesseln ihn auf eine feuerfeste Matratze, brechen ihm eine Rippe und das vordere Schädeldac­h. Dann, als er bewusstlos wird, bespritzen sie seinen Körper mit Brandbesch­leuniger und zünden ihn an. Flammen schnellen bis zur Decke, und nachdem sie erloschen sind: verbrannte­s Fleisch, Knochen und Blut in Asche, Ruß an den Wänden. Davon zeugen Gutachten. Wer »sie« sind? Jene, die sagen, das habe sich ein 36-jähriger Mann aus Sierra Leone selbst zugefügt: Polizisten, Beamte, Staatsanwä­lte, Richter, Politiker – die Institutio­nen, das System, der Rassismus.

Oury Jalloh hatte vier Jahre in Deutschlan­d gelebt. Mit einer Deutschen hatte er ein gemeinsame­s Kind, das nach dem Tod des Vaters zur Adoption freigegebe­n wurde. Jalloh war ein Geduldeter, wie so viele, deren bloße Existenz ein Protest gegen das Bestehende ist. Sein Asylantrag wurde abgelehnt. Er wurde wegen Drogenhand­els mit einer Freiheitss­trafe von drei Jahren belegt. Das Urteil war nicht rechtskräf­tig. Schließlic­h wurde er ein Mordopfer dieses Landes, das mit ihm nichts anzufangen wusste und seit Jahrzehnte­n vergeblich nach einer Lösung für Menschen wie ihn sucht, die das Wertgesetz nicht verwerten kann. Dasselbe Land schützt seine Mörder in Uniform, wie es einst jene geschützt hat, die in der finsteren Pogromnach­t des November 1938 den Sieg der Barbarei gefeiert haben. Ohne den Druck und eigene Ermittlung­en der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh e.V.« hätte niemand von diesem Schicksal erfahren.

Manchmal werde ich gefragt, warum mich der Tod von Oury Jalloh interessie­rt. »Du kommst nicht aus Dessau, du kanntest ihn nicht, auch nicht seine Freunde, und aus Sierra Leone bist du erst recht nicht, auch bist du nicht schwarz. Was geht dich das an?« Ich verstehe diese Frage, ich verstehe die Verzweiflu­ng, die sich dahinter verbirgt. Sie ist mir vertraut. In gewisser Weise hat diese Frage etwas Ehrliches – auch, oder besser: gerade deshalb, weil sie ein unreflekti­erter Reflex des Verstandes ist, der es gewohnt ist, sich unterwerfe­n zu müssen. Manchmal erreichen meine Zweifel denselben Abgrund, aus dem solche Fragen tönen: Was habe ich mit Oury Jalloh zu tun?

Dann denke ich an die NSU-Mordserie, in die dieser Staat verstrickt ist. Dann denke ich an das Schweigen der Bürgerlich­en, der Behörden, der Künstler, der Gelehrten und der Politik, als wäre das Schweigen die Kriegsmusi­k aller gegen alle. Ich denke an das Verschließ­en und Vernichten von Akten, in denen die Namen der Mörder stehen, und an die Kultur, die an den Namen der Ermordeten nicht interessie­rt ist, weil sie einen Absatzeinb­ruch fürchtet. Ich denke an den Mob in Claußnitz, der einen Bus mit verängstig­ten Kindern, wehrlosen Müttern und gebrochene­n Männern anhält und sich dabei stark fühlt, weil die Polizei ihn tatenlos gewähren lässt. Ich denke an die wöchentlic­h brennenden Flüchtling­sheime vor wenigen Jahren und warte bis heute, dass die Brandstift­er gefasst werden – und irgendwann merke ich, dass mein Warten sich als ein Korruption­sversuch der Mittäter entpuppt, als dumme Gutgläubig­keit. Sodass ich falsche Geduld zurückweis­e, um mich gegen den Verdacht der Beihilfe zu verteidige­n.

Ich denke an den Anschlag in Halle und werde sprachlos vor dem Hass. Bis heute wagen die Herrschend­en nicht, das Offensicht­liche in Chemnitz beim Namen zu nennen, die Hetzjagd auf Menschen. Ich denke an Rostock-Lichtenhag­en, an dieses rauchende

Hochhaus, das Herzenskäl­te und Ignoranz symbolisie­rt. Damals war ich drei Jahre alt. Ich denke an den Brandansch­lag von Solingen, dem Nachbarort meiner Geburtssta­dt. Ich suche nach einem vernünftig­en Grund, warum die Familie Genç nicht Familie Bayraktar heißen könnte, so wie meine Familie. Ich finde keinen.

Ich denke an meine Kindheit, an die Gewalt der Scham, weil ich nicht wie meine deutschen Mitschüler das Märchen »Aschenputt­el« kenne, von ihnen ausgelacht werde und meine Lehrerin mich mit einem verständni­slosen Blick anstarrt, so als würde sie meinen Eltern die Schuld dafür geben wollen. Ich erinnere mich an meine türkischen Freunde aus der Realschule, die infolge des Frustes und der Kränkungen, mit denen das Schulsyste­m aussortier­t, Drogen verkauften und Joints in Schulpause­n zu rauchen begannen. Im Rauch des Vergessens hatten wir das Gefühl, irgendwer zu sein. Wir spürten falschen Stolz, aber immerhin Stolz.

Ich denke an meine Mutter, die sich von Beamten anhören muss, dass sie in Deutschlan­d lebe und Deutsch lernen müsse, aber niemand bietet ihr einen Stuhl an, um ihr Deutsch beizubring­en, bis heute nicht. Ich sehe die Angst auf ihren blassen Wangen, während sie im Supermarkt einkauft und hofft, dass niemand sie anspricht, obwohl sie die Blicke im Nacken spürt, die sie belauern, weil sie ein Kopftuch trägt. Im türkischen Supermarkt oder auf dem Flohmarkt fühlt sie sich wohl. Ich höre die hektischen, gehetzten Stimmen der Serben, Kroaten, Albaner, Afghanen, Russen, Polen, Libanesen, Sinti, Roma aus dem Viertel, wo ich aufgewachs­en bin. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich all die Arbeiterge­sichter. Ihre Sorgen machen ihre Lider schwer.

Sorge ist kennzeichn­end für die Gesichter der Vergessene­n, Verdrängte­n und Ausgenutzt­en,

Ausgebeute­ten und Betrogenen. Ich sehe mein Gesicht. Im Spiegel tritt mir ein Fremder entgegen, der mich wegen seiner Trauer und seinem Zorn ängstigt. Das bin ich. Ich sehe das Gesicht von Oury Jalloh. Ich bin Fleisch von seinem Fleisch, Knochen von seinem Knochen. Das war Mord.

Nichts ist schmachvol­ler, als die Zielscheib­e von Rassismus zu sein. Er gibt dir das Gefühl, dass du kein Mensch bist. Er behandelt ein Haustier besser als dich. Er nimmt dir deine Würde und hinterläss­t eine Leere, die dich auffrisst, wenn du alleine bist. Er will dich, mit einer Stimme, von der du nicht weißt, woher kommend, überzeugen, dass du es verdienst, beleidigt und beschimpft, geschlagen und bespuckt, beiseitege­schoben und übergangen zu werden. Jemand, der solche Erfahrunge­n nicht kennt, wird nicht verstehen, was Rassismus heißt. Er wird weder verstehen, dass Rassismus zum System der Armut gehört, noch verstehen, dass Rassismus strukturel­l angelegt ist – nie verstehen, dass Rassismus durch das Schweigen spricht, nie verstehen, dass Rassismus tötet, mordet, plündert – töten, morden, plündern muss. Er wird sich niemals eingestehe­n, dass Rassismus zum Ordnungspr­inzip der kapitalist­ischen und liberalen Gesellscha­ftsform gehört, die unterdrück­t, indem sie ausgrenzt, spaltet, entsolidar­isiert und jeden gegen jeden im Namen der Freiheit ausspielt. Rassismus kolonialis­iert die Herzen. Dieser Jemand, der die Erfahrunge­n nicht macht und sich vor diesen oder Berichten darüber verschließ­t, ist gefährdet, Rassist zu werden. Zweifellos ist er aber ein Rassist, wenn er sich noch nie ernsthaft die Frage gestellt hat, ob er ein Rassist ist.

Allein bin ich aber nicht. Das zeigt die Initiative, das zeigen mir Freunde und Bekannte und Unbekannte, meine Klasse. Das gibt mir Boden. Wir vergessen Oury Jalloh nicht. Das hieße, uns selbst zu vergessen.

Manchmal werde ich gefragt: »Mesut, du kanntest ihn nicht, auch nicht seine Freunde, und aus Sierra Leone bist du erst recht nicht, auch bist du nicht schwarz. Was geht dich das an?«

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