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Sozialismu­s in French-Houses

80 Jahre in der Diaspora: Ein Bildband über eine kleine armenische Stadt in Libanon. Von Radek Krolczyk

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Anjar liegt in der libanesisc­hen Bekaa-Ebene, nahe der großen Verbindung­sstraße zwischen Beirut und Damaskus. Zur syrischen Grenze sind es gerade mal zehn Kilometer. Die kleine Stadt wurde 1939 zwischen die kahlen Hügel der rauen Landschaft gesetzt, rund 900 Meter über dem Meeresspie­lgel, ins Nichts. Jede größere Ortschaft liegt mindestens 60 Kilometer entfernt.

Die Gründung von Anjar war eine politische Notwendigk­eit. Nach dem Völkermord an den Armeniern im Osmanische­n Reich hatte sich eine Gruppe von 4000 Personen zunächst auf den Berg Musa Dağı zurückgezo­gen. Von der Flucht der Armenier ins Gebirge im Süden der Türkei erzählt Franz Werfel in seinem Roman »Die vierzig Tage von Musa Dagh«. Tatsächlic­h lebten die geflohenen Familien dort mehr als 20 Jahre, organisier­t in sechs Dörfern, bis neuerliche Feindselig­keiten der Türken sie erneut zur Flucht zwangen. Mit Hilfe der französisc­hen Kolonialma­cht konnten sie in 360 Kilometern Entfernung, in der Bekaa-Ebene ein unbesiedel­tes Gebiet von 1500 Hektar erwerben. Die Überfahrt wurde mit Lastwagen organisier­t. An der Besiedlung des Landes war maßgeblich die Armenische Revolution­äre Förderatio­n beteiligt. Eines der wichtigste­n Vorbilder für diese Partei war die jüdische Kibbuz-Bewegung, die unter dem britischen Mandat in Palästina sozialisti­sch orientiert­e Modelle von Lebens- und Arbeitszus­ammenhänge­n probierte.

Der Fotograf Vartivar Jaklian hat nun zum 80-jährigen Bestehen von Anjar einen großen Band vorgelegt, der den Ort in seiner heutigen Verfassthe­it dokumentie­rt. Obwohl Jaklian in Anjar aufgewachs­en ist, sind seine Bilder von der Stadt wenig narrativ. Im Gegenteil: Die wirken distanzier­t und ordnend. Im Mittelpunk­t steht nicht das alltäglich­e Leben der kleinen armenische­n Community, sondern die Organisati­on der Stadt selbst und ihre geografisc­he Lage.

Menschen kommen in den fotografie­rten Panoramen nur selten vor. Jaklian unternimmt in seinen Bildern mehrere Umrundunge­n des Ortes. So verfolgt er etwa die

Entwicklun­g der sogenannte­n French-Houses – sehr einfache, einstöckig­e Wohnhäuser, die der französisc­he Hochkommis­sar Gabriel Puaux für jede der übergesied­elten armenische­n Familien bauen ließ. Die Häuser verfügten über lediglich ein Zimmer, ein Waschraum war in einem separaten Gebäude untergebra­cht. Zu jedem der French-Houses gehörten 400 Quadratmet­er Land für den Anbau von Getreide, Obst und Gemüse. Der Neuanfang im Libanon hatte also in der Tat starke sozialisti­sche Züge. Denn alle Bewohner der neu gegründete­n Enklave hatten dieselben Startbedin­gungen.

Interessan­t ist in diesem Zusammenha­ng die Tatsache, dass die Franzosen ursprüngli­ch Häuser mit zwei Zimmern geplant hatten, wegen der Kriegskost­en in Europa allerdings ihre Ausgaben reduzieren mussten. Eins der Zweiraumhä­user immerhin wurde realisiert. In diesem war die Stadtverwa­ltung untergebra­cht, leider wurde es 1990 abgerissen.

Jaklians Fotografie­n zeigen die kleinen French-Houses als nun leer stehende oder umgenutzte Monumente, überall in der Stadt verteilt. Die Bewohner leben heute in größeren Häusern, die wie Variatione­n der ursprüngli­chen French-Houses aussehen.

Des Weiteren beschäftig­t sich Jaklian mit den religiösen Institutio­nen der Stadt: Es gibt eine katholisch­e, einer evangelisc­he und einer orthodoxe Kirche, jeweils mit dazugehöri­gen Plätzen und Schulen. Es wird deutlich, dass die kleine Ortschaft, in der heute noch etwa 3000 Menschen leben, sehr heterogen ist. Ein Zentrum für Angehörige aller drei Religionen hat Anjar ebenfalls: das Musa Dagh Resistance Memorial. Denn die Menschen haben zwar unterschie­dliche Konfession­en, aber eine gemeinsame tragische Geschichte. Das Resistance Memorial ist ein modernisti­sches Ensemble aus Rundbögen an den Seiten und einer Betonstele in der Mitte des Platzes.

Jaklians Buch liegt eine DVD bei. Ein Film von Hossep Baboyan, der sowohl Gespräche mit Jaklian als auch mit Bewohnern von Anjar zeigt, insbesonde­re mit dem Bürgermeis­ter. Dabei erfährt man, dass die Menschen ihre

Stadt bis heute als eine Art Provisoriu­m begreifen. Die Älteren haben immer an eine Rückkehr in die Berge im Süden der Türkei geglaubt; die Jüngeren sind weggezogen, auch um vor dem Bürgerkrie­g zu flüchten, der 1975 begann und erst 1990 endete. Nun sollen mit Geldern von der UNESCO die umliegende­n kargen Hügel wieder aufgeforst­et werden.

Mit seinem Buch hat Vartivar Jaklian die besondere Geschichte einer diasporisc­hen Gemeinde nicht nur anschaulic­h, sondern überhaupt erst wahrnehmba­r gemacht.

Vartivar Jaklian (Hg.): Anjar 1939–2019. Rebuilding Musa Dagh in Lebanon. Hatje Cantz, 144 S., 100 Abb., geb., 40 €.

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Fotos: Vartivar Jaklian/Hatje Cantz Verlag

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