nd.DerTag

Generation­enfrage China

Junge Menschen sehen sich heute als Taiwaner. Vom Festland wenden sie sich ab.

- Von Alexander Isele

Wei Yang gestikulie­rt wild mit den Armen. Hier an dieser Stelle, an einem schmalen Fußweg an einer vielspurig­en Straße, hat vor fast sechs Jahren die Besetzung des Taiwanisch­en Parlaments begonnen. »Es waren etwa 500 bis 1000 Polizisten hier. Wir waren etwa 500 Leute und haben sie ausgetrick­st, wir kamen durch das Tor am Seiteneing­ang und besetzten die Parlaments­kammer.« Heute ist der Zaun hinter ihm ein Meter höher als damals. Wei greift an das Gitter, macht, als würde er gleich hochklette­rn, lässt los und schmunzelt: »Wer weiß, wer mich sieht.«

Für 23 Tage besetzten die jungen Taiwaner 2014 das Parlament, aus der Bevölkerun­g erhielten sie viel Zuspruch, Essenspake­te und immer mehr Sonnenblum­en – so entstand die Sonnenblum­enbewegung. 500 000 Menschen gingen in der Folge auf die Straße, um gegen den Kurs der damaligen Regierung unter der Kuomintang-Partei zu protestier­en. Deren stetige Annäherung an China, das geplante 23. Abkommen mit der Volksrepub­lik, das den Dienstleis­tungssekto­r für Unternehme­n vom Festland geöffnet hätte, ließ die Jugend revoltiere­n. »Zum ersten Mal in der Geschichte haben sich so viele junge Leute aus allen Berufen und aus allen Regionen in Taiwan versammelt und die Kuomintang-Regierung wirklich erschütter­t. Früher dachten wir, die Kuomintang sei unberührba­r«, erzählt Wei. Doch die Bewegung veränderte Taiwan, in ihrem Wind gewann die Opposition­skandidati­n der Demokratis­chen Fortschrit­tspartei (DPP), Tsai Ing-wen, 2016 mit großem Abstand die Präsidents­chaft.

Seither mischen viele der Mitsteiter*innen der Sonneblume­nbewegung in der Politik mit. Etwa Huang Yu-fen, die mit ihren 29 Jahren die zweitjüngs­te Abgeordnet­e des Stadtparla­ment von Taipeh ist. Über den Umweg der DPP kam sie zur »Partei der neuen Kraft«, die 2015 aus der Sonnenblum­enbewegung entstand und als einzige laut für eine Unabhängig­keit Taiwans wirbt. Eine Wiederholu­ng des Wahlerfolg­s von 2016 mit sechs Prozent der Stimmen und damit fünf Sitzen im Parlament ist für die Partei zwar unwahrsche­inlich. Trotzdem ist sie Sinnbild für die Veränderun­g in Taiwan.

Huang setzt auf soziale Themen. In Taiwan sei die Einordnung der Parteien schwer, erzählt sie, denn es gebe keine Aufteilung in links und rechts. »Bei uns sind die Parteien entweder auf Chinas Seite oder auf Taiwans Seite.« Wer wie sie die Präsidenti­n Tsai und deren DPP wegen deren Sozial- oder Umweltpoli­tik kritisiere, werde von einigen beschuldig­t, die Kuomintang und damit die China-Seite zu unterstütz­en. Das mache es schwierig für die Partei, aber Hunag setzt auf soziale Themen: »Wir kümmern uns um das Thema Arbeit: Der Mindestloh­n muss erhöht, der Arbeitssch­utz verbessert werden. Genauso wie die Bezahlung für Jüngere.«

Auch bei den Präsidents­chafts- und Parlaments­wahlen an diesem Samstag könnten junge Taiwaner den Ausschlag geben. Das spielt wiederum Präsidenti­n Tsai in die Karten, die mit ihrem Wahlkampf »Heute Hongkong, morgen Taiwan« die Angst vor China schürt und viele junge Wähler*innen erreicht. In einer Umfrage des Taiwanisch­en »Business Weekly« unter 800 Erstwähler*innen vom November gaben 83 Prozent an, sie sehen sich sich als Taiwaner, nur ein Prozent gab an, sich als Chinesisch zu sehen, elf Prozent sehen sich sowohl als Taiwanisch als auch Chinesisch. Von den Befragten gaben nur drei Prozent an, sie wollten eine Wiedervere­inigung mit China, fast 60 Prozent bevorzugte­n den Status quo, 35 Prozent wünschten sich Unabhängig­keit. Dabei war für die Mehrheit das wichtigste Thema bei der Wahlentsch­eidung die Bedrohung der taiwanisch­en Souveränit­ät, mit Abstand gefolgt von niedrigen Löhnen und Desinforma­tion, was hier als »Fake News« bekannt ist.

Viele der Jungwähler*innen werden wohl für Tsai als Präsidenti­n stimmen; bei der Parlaments­wahl allerdings hat die Demokratis­che Fortschrit­tspartei stärkere Konkurrenz abseits der Kuomintang. Der droht eine bittere Niederlage und damit auch der weitere Niedergang. Die Kuomintang war es, die 1912 das mehr als zweitausen­djährige Kaiserreic­h beendete und die Republik China ausrief. Nachdem sich der Kommunisti­sche Flügel abspaltete und die Kommunisti­sche Partei Chinas gründete, kam es zum Bürgerkrie­g. Nach der Niederlage 1949 flüchtete die Kuomintang mit zwei Millionen Anhänger*innen nach Taiwan, wo sie die Republik China seitdem formell fortführt. De facto wird Taiwan seitdem eigenständ­ig regiert. Es gibt eine eigene demokratis­ch gewählte Regierung, eine eigene Währung und ein eigenes Militär. Noch immer gibt es Streit über die Aufarbeitu­ng der Gewaltherr­schaft der Kuomintang, die angeführt von Chiang Kai-sheks die indigene Bevölkerun­g unterdrück­te und den Machtappar­at neu aufbaute, um irgendwann das Festland zurückzuer­obern.

Und auch ihre Hoffnung, dass viele der Studierend­en nicht wählen gehen werden, da sie dazu in ihre von den Universitä­ten weit entfernte Heimatstäd­te gehen müssten, dürfte sich nur bedingt erfüllen. Zum Beispiel sammelt die Jugendorga­nisationen »Taiwan Youth Associatio­n for Democracy« Spenden und organisier­t Busse, die Studierend­e die Fahrt in den Bezirk ermögliche­n, in dem sie wählen müssen.

Das langjährig­e Kuomintang-Mitglied Alexander Huang, Hochschulp­rofessor und Leiter eines Denkfabrik zu Sicherheit­sfragen, ist sich der Situation seiner Partei bewusst. »Mein Vater ist aus China. Er kam 1951. Er dachte in den ersten zehn Jahren, das werde nur ein temporärer Aufenthalt. Aber jetzt ist er 93 und sagt: ›Ich werde hier begraben, ich bin Taiwaner und Chinese‹«, erzählt Huang. Die Generation seine Vaters halte alle in Taiwan für Chinesen, wolle aber nicht unter den Kommuniste­n leben. »Meine Generation ist mit einer friedliche­n Koexistenz zufrieden, und die jüngere Generation sieht das sehr simpel: Wir sind Taiwaner, das verdammte China ist uns egal.«

In den Gesprächen mit seinen Studierend­en will der 60-Jährige vermitteln, dass die Kommunisti­sche Partei nicht gleichbede­utend mit China ist. Lange hat er im Außenminis­terium gearbeitet, war Vizeminist­er für Festlandan­gelegenhei­ten. »Für ein kleines Land wie unseres wäre es Selbstmord, sich von China abzuwenden«, warnt er. »Wir sind eine Demokratie, und drüben haben sie ein anderes System. Aber wir müssen die chinesisch­e Gesellscha­ft und die Leute nicht hassen«, sagt Huang. »Ich sage den Jüngeren immer: Es ist in Taiwans Interesse mit China klarzukomm­en. Wir müssen sie nicht lieben, aber wir müssen mit ihnen klarkommen, um Frieden zu sichern.« Dies zu erreichen traut die Jugend der Kuomintang allerdings nicht mehr zu.

»Zum ersten Mal in der Geschichte haben sich so viele junge Leute aus allen Regionen in Taiwan versammelt und die Kuomintang­Regierung wirklich erschütter­t. Früher dachten wir, die Kuomintang sei unberührba­r.«

 ?? Foto: dpa/Chiang Ying-Ying ?? Kandidaten­tanz: Han Kuo-yu (li.), Soong Chu-yu und Tsai Ing-wen
Foto: dpa/Chiang Ying-Ying Kandidaten­tanz: Han Kuo-yu (li.), Soong Chu-yu und Tsai Ing-wen
 ?? Foto: Alexander Isele ?? Wei Yang an der Stelle, an der die Besetzung des Parlaments 2014 begann
Foto: Alexander Isele Wei Yang an der Stelle, an der die Besetzung des Parlaments 2014 begann
 ?? Foto: Reuters/Ann Wang ?? Tsai Ing-wens Zeit im Präsidente­npalast ist noch nicht abgelaufen.
Foto: Reuters/Ann Wang Tsai Ing-wens Zeit im Präsidente­npalast ist noch nicht abgelaufen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany