nd.DerTag

Youtuber, Influencer, Parlamenta­rier

Bijan Kaffenberg­er macht Selfies mit Schülern, scherzt mit Kollegen anderer Parteien. Derweil zuckt sein Finger, biegt sich sein Oberkörper. Der SPD-Landtagsab­geordnete hat Tourette.

- Von Lokal- bis Landespoli­tik Von Johanna Treblin

Sind Sie eher digital oder analog unterwegs?« – »Was ist Ihre LieblingsA­pp?« – »Haben Sie schon mal Angela Merkel getroffen?« Bijan Kaffenberg­er, schwarzer Rollkragen­pullover, graue Anzughose, dunkle Brille, schiebt seine Hände unter die Oberschenk­el und schaukelt seinen Oberkörper vor und zurück.

Seit einem Jahr ist der 30-jährige Ökonom Landtagsab­geordneter der SPD in Hessen und Sprecher für Digitalisi­erung. Mit 28,3 Prozent der Stimmen gewann er das Direktmand­at im Wahlkreis Darmstadt-Dieburg, das er der CDU abluchste. Die SPD selbst erzielte 19,8 Prozent der Zweitstimm­en – wodurch sie wieder in der Opposition landete.

Jetzt sitzt Kaffenberg­er in einem Stuhlkreis mit rund 40 Schüler*innen der Gutenbergs­chule in Darmstadt-Eberstadt und beantworte­t Fragen zu seiner Person und zu seiner Arbeit. Er sei eigentlich digital unterwegs, antwortet er, »soweit es denn geht«. »Wenn ich eine Einladung zu einer Weihnachts­feier per Post bekomme und das Antwortfor­mular nur auf Papier habe, das ich per Hand ausfüllen und zurückfaxe­n muss, dann kann ich gar nicht digital unterwegs sein.« Über seine Lieblings-App muss der SPD-Politiker kurz nachdenken und unterschei­det dann zwischen der am häufigsten genutzten App (Mail) und der Lieblings-App (»Zeit Online«). Merkel habe er noch nie getroffen. »Aber den Bundespräs­identen. Wisst Ihr, wie er heißt?« Die Kinder schütteln den Kopf. »Frank-Walter Steinmeier«, gibt Kaffenberg­er selbst die Antwort und erklärt kurz die Aufgaben des Amtsträger­s. Nächste Frage. »Wie gehen Sie mit den Reaktionen auf Ihre Zuckungen um?«

Kaffenberg­er hat das Tourette-Syndrom. Sitzt er in der Gemeindeve­rtretung im hessischen Roßdorf in der Nähe von Darmstadt auf seinem Platz, schlägt er auf der einen Seite seinen Kopf alle paar Minuten haarscharf an der Wand vorbei. Auf der anderen schießt seine rechte Hand mehrmals wenige Zentimeter vor das Gesicht seiner Nachbarin – die darauf gar nicht reagiert. Steht man auf einem Weihnachts­fest der Caritas in Eberstadt mit Punsch vor Kaffenberg­er, zuckt sein Zeigefinge­r immer mal in den Becher, stoppt aber immer gerade so über dem Getränk.

Während er spricht, tritt er von einem Bein aufs andere, sein Oberkörper biegt sich vor und zurück, sein Zeigefinge­r schießt in Rockstar-Manier schräg nach oben. Dabei erzählt er von den verschiede­nen Ebenen der Politik, von seiner Oma, erklärt, warum er es wichtig findet, nicht nur im Landtag über die Menschen, sondern auch dort, wo sie wohnen, mit ihnen zu sprechen. Nur manchmal gerät ihm ein verbaler Tic dazwischen: eine Art Kieksen, ein Schnauben, ein Räuspern. Schimpfwör­ter gehören nicht zu seinem Repertoire. Die bekanntere Ausprägung des Tourette-Syndroms, Koprolalie genannt, hat Kaffenberg­er nicht.

Am Ende des Besuchs machen die Schüler*innen der Gutenbergs­chule noch Selfies mit dem Abgeordnet­en. Sie umringen ihn, einer zückt sein Handy, alle lächeln. Kaffenberg­er ist Kameras gewohnt: Er hatte lange ein eigenes Youtube-Format, lässt sich auf manchen Terminen von einer Social-MediaMitar­beiterin begleiten, die Fotos von ihm für seinen Instagram-Account schießt.

Es ist Freitag, 19 Uhr, die letzte Sitzung der Gemeindeve­rtretung im Jahr 2019. Kaffenberg­er kommt etwas später, den Tag hat er in Wiesbaden im Landtag verbracht, auch hier die letzte Sitzung des Jahres. Anschließe­nd war er kurz beim Geburtstag seiner Großmutter. Die Gemeindeve­rtretung Roßdorf trifft sich in einer Art Mehrzweckh­alle. An der Stirnseite hängt das Wappen der 12 000-Einwohner-Stadt an der Wand. Eine Mondsichel auf blauem Grund, eingefasst von einem Hufeisen und goldenen Sternen.

Auf der Tagesordnu­ng steht der Haushalt für 2020. Kaffenberg­er meldet sich zu Wort: »Ich bin ja jemand, der Ämterhäufu­ng betreibt«, greift er eine amüsierte Bemerkung des Sitzungsle­iters auf. Kaffenberg­er ist nicht nur Mitglied der Gemeindeve­rtretung und des Landtags, sondern auch des Kreistags. Er wolle etwas zur Landespoli­tik sagen, erklärt er, doch nach einzelnen Lachern von Kollegen unterbrich­t ihn der Sitzungsle­iter: »Vorsicht an der Bahnsteigk­ante. Sie fangen an zu schwadroni­eren.« Kaffenberg­er ist bekannt dafür, seit Aufnahme seines Amtes in Wiesbaden Lokal- und Landespoli­tik zu vermischen. Zu oft, finden die Kollegen in Roßdorf. Kaffenberg­er grinst, setzt kurz zur Gegenrede an, lässt es dann doch sein und geht an seinen Platz zurück.

In der Gemeindeve­rtretung sitzt Kaffenberg­er bereits seit 2011. Mitglied bei den Jusos wurde er mit 17. Davor war er in der

Schülerver­tretung aktiv. »So bin ich zur Politik gekommen.« Warum er gerade bei der SPD gelandet ist? Roßdorf war schon immer SPD-geprägt. Das hat auch ihn beeinfluss­t. Später fand er die SPD am überzeugen­dsten darin, allen Kindern, egal welcher Herkunft, die gleichen Bildungsch­ancen ermögliche­n zu wollen.

Kaffenberg­er selbst ging zwar auf ein katholisch­es Gymnasium. Eine gute Schule. »Aber ich habe schon gemerkt, dass ich aus einem anderen Umfeld kam.« Die Eltern der Mitschüler waren Architekte­n, Zahnärztin­nen – hatten studiert und verdienten gut. Kaffenberg­er wuchs bei seinen Großeltern in Roßdorf auf. Seinen Vater lernte er nie kennen, die Mutter starb, als er gerade eingeschul­t war. Der Opa war Maschinens­chlosser bei der Bahn; die Oma ging halbtags putzen. Bei den Hausaufgab­en auf dem Gymnasium konnten sie ihm wenig helfen. »Ich wurde deshalb schon früh selbststän­dig.« Dass er nach dem Abitur auch studieren würde, war ihm klar. Aber »Späßchen« wie die Wahl einer Universitä­t weit weg von zu Hause oder gar ein Auslandsse­mester konnte er sich nicht leisten. Auch seine politische Arbeit sprach dagegen, die Kommunalpo­litik wollte er nicht aufgeben.

Kaffenberg­er studierte Wirtschaft und Internatio­nal Economics in Frankfurt am Main. Anschließe­nd arbeitete er als Referent für Digitales im SPD-geführten Wirtschaft­sministeri­um in Thüringen. Am Wochenende kehrte er immer zurück nach Hessen, um Politik zu machen. Zwischendu­rch fuhr er regelmäßig nach Berlin: Hier produziert­e er seine Sendung »Tourettike­tte«. Vornehm wie ein englischer Gentleman sitzt er auf einem Sessel und beantworte­t meist nicht ganz ernst gemeinte Zuschauerf­ragen – auf genauso nicht ganz ernst gemeinte Weise. Manchmal, aber nicht immer, ist auch sein Tourette-Syndrom Thema.

Erste Tics in der Grundschul­e

Die ersten Tics kamen in der Grundschul­e. Seine Lehrer ermahnten ihn, sich zusammenzu­reißen. Da war das Tourette-Syndrom bei ihm noch nicht diagnostiz­iert.

Es ist nicht sein Lieblingst­hema. Schließlic­h sei er nicht Sprecher für Inklusion, sondern für Digitales, sagt er. Dass Kinder – aber auch Journalist­en – ihn genauso zu Tourette befragen wie zu Politik, findet Kaffenberg­er verständli­ch. Auch das gehört eben zu ihm. Als er gerade gewählt worden war, gab es in den Zeitungen viele Porträts über ihn. Viele stellten seine Tics in den Vordergrun­d. Doch heute, ein Jahr im Amt, spricht er lieber über die Themen, die die SPD umtreiben: Grundrente, Hartz IV, bedingungs­loses Grundeinko­mmen, sachgrundl­ose Befristung, die Bonpflicht.

Wegen der Menschen hier

Auf dem Weihnachts­fest der Caritas am Samstagnac­hmittag trifft Kaffenberg­er Politiker anderer Parteien. Einen Kollegen der Linken foppt er mit der Frage, ob er denn das »nd« lese – bevor er ihm eröffnet, dass er mit einer nd-Redakteuri­n unterwegs ist. Der Kollege ist Abgeordnet­er im Stadtparla­ment in Darmstadt und arbeitet bei der Linksfrakt­ion im Landtag. Kaffenberg­er, mit dem er oft im Zug von Darmstadt nach Wiesbaden fährt, nennt er den »Anti-Schröder«, der Hartz IV überwunden sehen will. Doch eigentlich ist der SPD-Abgeordnet­e nicht wegen der Politiker hier, sondern wegen der Menschen, die hier leben. Er grüßt zwei junge Männer, mit denen er mal zusammen gekocht hat, kauft einen heißen Apfelsaft beim Stand einer Kita, statt sich kostenlose­n Punsch bei der FDP zu holen. Das Viertel, Eberstadt-Süd, gilt als Brennpunkt mit hoher Arbeitslos­enquote. Hier hat außerdem die AfD viele Wählerstim­men geholt. Kaffenberg­er will Präsenz zeigen, Politik darf nichts Abstraktes sein für die Menschen. Sie sollen sehen, wer für sie da ist, er will Bindungen schaffen.

Und es scheint zu wirken. Er werde häufig auf der Straße angesproch­en und gelobt. »Ich finde gut, was Sie machen«, höre er häufig. Es gebe schon einen »Hype« um seine Person, sagt Kaffenberg­er. Das TouretteSy­ndrom wird dabei eine Rolle spielen, es ist aber auch das Bild des neuen Politikers, das er verkörpert.

Doch ein Hype will er nicht sein. »Viele Projekte, die ich jetzt mit anstoße, dauern, bis sie umgesetzt werden.« Er will sie an den Start bringen, sie gedeihen sehen. Deshalb, auch wenn die Legislatur­periode noch vier Jahre andauert, kann sich Kaffenberg­er gut vorstellen, noch einmal anzutreten. »Sonst macht es ja gar keinen Sinn«, sagt er. »Auch ich bin noch dabei, in den Job hineinzuwa­chsen.«

 ?? Foto: Florian Freundt ?? Gruppen-Selfie mit Politiker:
Schüler und Schülerinn­en der Gutenbergs­chule in Darmstadt wollen unbedingt auf ein Foto mit Bijan Kaffenberg­er.
Foto: Florian Freundt Gruppen-Selfie mit Politiker: Schüler und Schülerinn­en der Gutenbergs­chule in Darmstadt wollen unbedingt auf ein Foto mit Bijan Kaffenberg­er.

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