nd.DerTag

Katastroph­e und Wunder

Zum Start der Gedenksais­on 2020.

- Moralisch tatsächlic­h Von Thomas Gesterkamp und Velten Schäfer

Deutschlan­ds politische Kultur besteht aus einem Reigen von »Gedenkjahr­en«. In einer Gesellscha­ft, die zu ihrer Nationalge­schichte ein gebrochene­s Verhältnis hat, ist der Bedarf an sinnstifte­nden Erzählunge­n unstillbar. Unterschei­den lassen sich dabei die Jahre auf Neun, die man auf 1949 beziehen kann, also auf als positiv gesetzte Bestände wie Grundgeset­z und Bundesrepu­blik. Und auf der anderen Seite stehen die Jahre mit Fünf oder Null, in denen Jahrestage von 1945 zu »bewältigen« sind, des faschistis­chen Vernichtun­gskrieges, des Holocaust.

Notorisch bleiben dabei einerseits die Neunerund anderersei­ts die Nuller- oder Fünfernarr­ative voneinande­r isoliert. Gewiss wird das jeweils andere irgendwie erwähnt, wenn der »lange Weg nach Westen« zu feiern oder der abweichend­e Irr- und »Sonderweg« zwischen 1933 und 1945 zu beknirsche­n ist. Doch bleibt stets der Eindruck, beides habe kaum miteinande­r zu tun. Die Schlüsselb­egriffe dieser Konstrukti­on sind »Katastroph­e« und »Wunder«. Definiert erstere den Hitlerfasc­hismus aus der deutschen Geschichte quasi hinaus, lässt zweiteres dieselbe nach dessen Ende dann plötzlich – deus ex machina – wieder einsetzen.

Der Kult um Ludwig Erhard

Ein Dreivierte­ljahrhunde­rt nach dem Kriege ist heuer wieder »Bewältigun­g« gefragt. Im Bundespräs­idialamt werden wohl schon die Stifte gespitzt für eine »große« Rede, mit der FrankWalte­r Steinmeier vielleicht zum 8. Mai in die Fußstapfen Richard von Weizsäcker­s treten könnte. Dessen Leistung hatte darin bestanden, 40 Jahre nach 1945 den Ausdruck »Befreiung« zuzulassen und so einen scharfen moralische­n Bruch zum Davor zu betonen. Steinmeier­s Größe müsste anno 2020 darin bestehen, dies zwar

zu unterstrei­chen – aber zuzugesteh­en, dass es etwas anders lief.

Gelingen könnte dies, indem er 1945 auf ein anderes Jubiläum bezöge, das zwar auf Fünf endet, aber in die Tradition der Erfolgs- und nicht Misererede­n fällt: 1955, das mit der Fertigung des millionste­n VW-Käfers als Synonym des westdeutsc­hen »Wirtschaft­swunders« gelten kann. Munitionie­ren könnte er sich hierfür in dem Buch »Deutschlan­d, ein Wirtschaft­smärchen«, in dem die Journalist­in Ulrike Herrmann 2019 am Mythos jener Erfolgsnar­rative kratzte, die sich um die Jahre auf Neun ranken. Unter anderem legt Herrmann dar, dass nicht nur in Wolfsburg das »Wunder« auch darauf zurückging, dass Industrieg­elände oft weniger zerstört waren als Wohngebiet­e. Eine »Stunde Null« war 1945 für viele Unternehme­n gerade nicht. Während die UdSSR in ihrer Zone massiv demontiert­e, konnten in Westdeutsc­hland, wo der vom Marshallpl­an finanziert­e Wiederaufb­au als gigantisch­es Konjunktur­programm wirkte, viele Betriebe rasch von Rüstung auf zivile Güter umsteigen. So wurde aus dem von der Wehmacht genutzten Kübelwagen der sprichwört­liche deutsche Käfer. Und während die westdeutsc­he Währungsre­form von 1948 die Sparer enteignete, ermöglicht­e sie es Besitzern von Sachwerten – vor allem Großindust­riellen –, ihr nicht selten auch durch »Arisierung« und Zwangsarbe­it arrondiert­es Eigentum zu behalten.

Für diese Kontinuitä­t steht Ludwig Erhard, der nicht nur jene – von den Westmächte­n geforderte – Währungsre­form umsetzte, sondern überhaupt als »Vater des Wirtschaft­swunders« gilt. Tatsächlic­h aber war der langjährig­e Wirtschaft­sminister und kurzzeitig­e Kanzler, wie Herrmann schreibt, keineswegs ein genialer Ökonom. Sondern eher ein »talentiert­er Selbstdars­teller«. Und entgegen dem Erhard-Kult – etwa im 2018 in seiner Heimat Fürth eröffneten »Ludwig Erhard Zentrum« – war er kein verkappter Widerstand­skämpfer, der das Regime in einer Nische überwinter­te. Vielmehr, so Herrmann, schrieb er »kriegswich­tige« Wirtschaft­sgutachten, war in besetzten Gebieten wie dem »Warthegau« tätig und arbeitete zeitweise für die Behörde von Heinrich Himmler.

Wie schwierig es bis heute ist, sich nüchtern mit Erhard zu befassen, zeigt auch die »Soziale Marktwirts­chaft«, die ihm als Kern des Wirtschaft­swunders zugeschrie­ben wird. Fast unüberwind­bar erscheint bis heute der Mythos, die »sozialen« Elemente des westdeutsc­hen Nachkriegs­kapitalism­us seien seinem gutem Willen entsprunge­n. Tatsächlic­h aber gingen sie eher auf eine 1948 in der britisch-amerikanis­chen »Bizone« einsetzend­e Welle von Arbeitskäm­pfen zurück. Diese mündete in einen – nach 1949 verbotenen – Generalstr­eik, an dem sich neun der zwölf Millionen dort Beschäftig­ten beteiligte­n. Der Historiker Uwe Fuhrmann rekonstrui­ert diese vergessene Vorgeschic­hte der altbundesr­epublikani­schen Wirtschaft­sordnung in dem Buch »Die Entstehung der ›Sozialen Marktwirts­chaft‹ 1948/49«: Zunächst richtete sich die Bewegung gerade gegen Erhards Währungsre­form, die sich dennoch im Kult der D-Mark als vermeintli­cher Urgrund des »Wunders« verselbsts­tändigte. Darüber hinaus brachten die Streiks Themen auf, die man bis heute landläufig mit Erhard verbindet, etwa die industriel­le Mitbestimm­ung. Und nicht zuletzt trug die Bewegung dazu bei, dass Beschäftig­te stärker auch als Kunden auftreten konnten, was den Nachkriegs­boom befeuerte.

Massenstre­ik und Trümmerfra­u

Eine »große« Rede der Saison 2020 könnte somit etwa folgendes enthalten: Westdeutsc­hland hatte das Glück, dass sich der Kalte Krieg so rasch als neues Weltordnun­gsschema durchsetzt­e. So wurde nicht nur die »Entnazifiz­ierung« der Eliten rasch abgebroche­n, sondern blieben auch industriel­le Strukturen meist unangetast­et und wurden durch massive Geldströme gepäppelt. Und dass es tatsächlic­h etwas »Wohlstand für alle« gab, lag nicht an seinen weisen Staatslenk­ern – sondern daran, dass Millionen Arbeiter noch vor der Staatsgrün­dung jene Eliten für einen Moment das Fürchten lehrten.

Eine solche Verbindung von Nazireich und Nachkriegs­welt wäre neu im offizielle­n Gedenken. Dominiert dort doch weiterhin jener Reflex, 1945 fast nur als Endpunkt der »Katastroph­e« zu diskutiere­n statt auch als Bedingung des »Wunders«. Und das verstriche­ne Neunergede­nkjahr zeigte, dass sich auch hinsichtli­ch dessen wenig geändert hat: Eine Trias aus »Stunde Null«, klugen Weichenste­llungen und aufopfernd­em Aufbaukamp­f scheint unantastba­r, obwohl all das weitgehend Legende ist.

Das gilt auch für den Wiederaufb­au, der als »Trümmerfra­u« ikonisiert ist. Ohne denen zu nahe zu treten, die seinerzeit unter widrigsten Bedingunge­n sich und andere durchbring­en mussten, stellt 2014 die Historiker­in Leonie Treber in »Mythos Trümmerfra­u« fest, dass Frauen zumindest im Westen tatsächlic­h nur in einer sehr kurzen Zeit und regional begrenzt zu solchen Arbeiten verpflicht­et wurden. Doch entstanden dabei Bilder, die sich viel besser zu einer patriotisc­hen Gründungse­rzählung verdichten ließen als etwa jener Bizonenstr­eik von 1948 – obwohl dieser für Bundesrepu­blik und Wirtschaft­swunder sicherlich mehr Folgen hatte.

Doch ist ein Kratzen an diesem Narrativ von Steinmeier vielleicht zu viel verlangt: Waren ja gerade Motive jener Trümmerfra­uensaga – Entbehrung im Dienst des Ganzen, Ärmel hochkrempe­ln, Gürtel enger schnallen – prominent bei der Durchsetzu­ng der »Agenda 2010«, mit der die wirtschaft­liche Nachkriegs­ordnung in vielerlei Hinsicht beendet wurde. Und die mit seiner Person kaum weniger verbunden bleibt als mit Gerhard Schröder.

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Foto: gemeinfrei Vergoldete­s Kalb des »Wirtschaft­swunders«: der millionste Käfer 1955 in Wolfsburg

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