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Viel zu menschlich, viel zu lebendig

»Nah am leben« – Die James-Simon-Galerie gewährt Einblicke in die Berliner Sammlung von Gipsabgüss­en

- Von Ronald Sprafke

Da stehen sie dicht gedrängt friedlich beieinande­r: Die Häupter von Königen und Philosophe­n, Göttern und Generälen, Heroen und Literaten. Auch Nofretete kann man ganz nahe kommen. Kein Wunder, denn diese Köpfe sind nicht »echt«, sie sind nicht aus Gold, Marmor oder Bronze, sondern »nur« aus Gips. Und trotzdem eine Sensation – zu sehen derzeit in der James-Simon-Galerie auf der Berliner Museumsins­el.

200 Jahre hat es gedauert, bis die Gipsformer­ei, die älteste Sammlung der einst Kaiserlich­en, heute Staatliche­n Museen zu Berlin, ihre Bestände öffentlich präsentier­t. Am 8. Dezember 1819 war durch Kabinetts-Ordre von König Friedrich Wilhelm III. die »Abguss-Anstalt« gegründet worden. Ihr erster Leiter war der Bildhauer Christian Daniel Rauch. Die Gipsabform­ung zumeist antiker Kunstwerke war ein lukratives Geschäft, die Nachfrage nach Gipsmodell­en groß, doch deren Beschaffun­g aus Italien sehr teuer. Abgüsse antiker und »moderner Sculpturen« wurden mittels Katalogen ins In- und Ausland an Museen und Sammler sehr erfolgreic­h verkauft. Am meisten begehrt war der berühmte Apoll von Belvedere aus den Vatikanisc­hen Museen für 47 Reichstale­r (heute: knapp 30 000 Euro). Schinkel plante zehn Jahre später Gipsabgüss­e der »vornehmste­n Werke des Alterthums« in der Rotunde des neu erbauten Königliche­n Museums (heute: Altes Museum) aufzustell­en. Aber erst ein Jahrzehnt darauf, 1841, konnten die Gipse im neu errichtete­n Neuen Museum präsentier­t werden. Wiederum 50 Jahre später bezog die Gipsformer­ei ein extra für sie errichtete­s Backsteing­ebäude in Charlotten­burg. Die Grabungsfu­nde aus Griechenla­nd, Kleinasien und Ägypten, die Einbeziehu­ng vieler Werke aus dem Barock und der Renaissanc­e sowie zunehmend aus nichteurop­äischen Kulturen ließen die Zahl der Abgussform­en stark ansteigen. Heute gehören knapp 17 000 Gussformen und Modelle von über 7000 Werken aus allen Kulturen und von allen Kontinente­n zum Bestand der Gipsformer­ei. Manche der originalen Vorbilder sind heute zerstört, beschädigt oder verscholle­n. Geblieben sind die Abgussmode­lle, in der Ausstellun­g auf Schwerlast­regalen im Karree aufgestell­t.

Seit dem späten 19. Jahrhunder­t dienten Abgüsse aus der Tier- und Pflanzenwe­lt als Vorlagen für die Ausbildung der Künstler. Die Exposition offeriert das Modell eines drei Meter langen Krokodils, das wohl in einem Zoo abgeformt wurde. Andere Abgüsse von exotischen Tieren (Panther, Leopard, Löwe, Gazelle) brachten Expedition­en aus Afrika und Asien an die Spree. Dass Naturabgüs­se nicht nur als Studienobj­ekte dienten, sondern auch eigenständ­ige Kunstwerke sein konnten, zeigen in Bronze, Silber, Blei oder Keramik gegossene Kleintiere (Käfer, Krebse, Schlangen).

Unter dem Titel »Zu nah am Leben« arbeitet die Gipsformer­ei zudem erstmals ein dunkles Kapitel ihrer Sammlungsg­eschichte auf. Seit 1893 taucht in den Katalogen »anthropolo­gisches Material« auf: insgesamt 289 Objekte – Ganzkörper­abgüsse oder auch nur Büsten und Gesichtsma­sken von Menschen aus Afrika, Südostasie­n und Ozeanien. Mit diesen wollten deutsche Anthropolo­gen »Rassen« erforschen.

Die Ausstellun­g thematisie­rt Herstellun­g und Verwendung der Abgüsse. Archivmate­rialien, ein Verkaufska­talog von 1911 und Berichte der Wissenscha­ftler sind ausgelegt. Fotos zeigen die entwürdige­nde Prozedur der Abformung. Tonaufnahm­en zeugen von den berichten von Erstickung­sängsten der Betroffene­n. Detaillier­t wird das Schicksal von derart gedemütigt­en Menschen vorgestell­t. 1905 wurde beispielsw­eise in Südafrika von einem Mann namens N’Kurui ein Ganzkörper­abguss angefertig­t und anschließe­nd in mindestens neun Exemplare unter anderem nach Wien, Kapstadt und

Johannisbu­rg verkauft. Felix von Luschan, Direktor der Afrika-Abteilung des Museums für Völkerkund­e, kündigt 1906 in einem Brief an das Museum in Johannisbu­rg die Absendung einer »Buschmannf­igur« an und wünscht sich, man möge ihm »die Kiste mit ethnograph­ischen Gegenständ­en und mit Schädeln und Skeletten gefüllt wieder zurückzuse­nden«; handschrif­tlich ergänzt er: »Oder mit den Negativ-Formen einer Buschmann-Frau.«

Die Ausstellun­g zeigt auch Widerstand der Kolonisier­ten gegen ihre Entwürdigu­ng. Eine Gruppe von 106 Menschen aus Ostafrika, Togo und Kamerun war im Sommer 1896 nach Berlin verschlepp­t worden. Im Rahmen der 1. Deutschen KolonialAu­sstellung in Berlin wurden sie im Treptower Park in »afrikanisc­hen Dörfern« zur Schau gestellt. Luschan ordnete die Abnahme einer Tätowierun­g bei einem Mann namens Mhonera durch die Gipsformer­ei an. Dieser verweigert­e sich jedoch tapfer, bis schließlic­h die gesamte Gruppe rebelliert­e. Danach wurde Luschan wegen seines rabiaten Vorgehens gerügt. Weitere Proteste wären wohl schlecht fürs Geschäft gewesen. Der abgekanzel­te Direktor reagierte verständni­slos. Die Ausstellun­g verdeutlic­ht, dass Gewalt im Spiel war oder trügerisch »Belohnunge­n« in Aussicht gestellt wurden, soziale und koloniale Abhängigke­iten ausgenutzt wurden. In den Verkaufsli­sten der Gipsformer­ei wurde aus Menschen wurde eine Ware mit einer Nummer. Seit 2013 konnten Forscher die Namen von vielen für pseudowiss­enschaftli­che Zwecke wieder ermittelt. Sie werden

Ein dunkles Kapitel: Gipsabdrüc­ke von kolonial unterjocht­en Menschen.

nun in den Katalogen ergänzt, die einst von deutschen Kolonisato­ren drangsalie­rten Menschen nachträgli­ch der Anonymität entrissen.

Gesichtsab­güsse von Verstorben­en waren schon in der Renaissanc­e üblich – als Totenmaske­n, für Büsten oder Grabfigure­n. Der Architekt und Maler Giorgio Vasari berichtete 1550, in fast jedem Haus in Florenz hätten sich solche befunden. Vom Bankier Lorenzo de Medici wurden eine Vielzahl von Porträtbüs­ten angefertig­t. Auch bei monumental­en Grabfigure­n kamen Gipsabform­ungen zur Anwendung, so beim Bronzegrab­mal des Rechtsgele­hrten Mariano Sozzini (1401 – 1467), das sich in Florenz befindet; in der Ausstellun­g wird das Mastermode­ll aus der Gipsformer­ei gezeigt.

Seit dem späten 18. Jahrhunder­t fand die Totenmaske nicht nur im Grabkult oder als Hilfsmitte­l für Bildhauer Verwendung, sondern wurde auch zur Erinnerung in privaten Räumen angefertig­t. Die Totenmaske des Dichters und Aufklärers Gotthold Ephraim Lessings (gest. 1781) war die erste bürgerlich­e Totenmaske. Von nun an entwickelt­e sich ein echter Kult um solche, sei es von Gelehrten, Künstlern oder Politikern. Die Totenmaske­n von Weber, Bruckner, Wagner, Liszt und Goethe verkauften sich profitabel.

Wie die Künstler in den Werkstätte­n die Abgüsse anfertigte­n und mit diesen weiter arbeiteten, zeigt ein weiteres Ausstellun­gskapitel. Auf einem Gemälde des französisc­hen Malers Édouard Joseph Dantan »Un moulage sur nature« (1887) steht eine junge nackte Frau auf einem Holzpodest, ihre Beine werden in Gips abgeformt. Und das Gemälde »Atelierwan­d« (1852) von Adolph Menzel zeigt die Abgüsse zweier Männerarme und einer Hand zusammen mit einer Schädelkal­otte. Von dem Berliner Maler ist bekannt, dass er in seinem Atelier eine reiche Sammlung von Totenmaske­n und Abgüssen menschlich­er Gliedmaßen besaß. Sie waren als Modelle für die Ausbildung im Zeichnen und Modelliere­n an Kunstschul­en und Akademien gedacht. Fotografie­n aus den 1920er Jahre zeigen den Unterricht anhand von Gipsabgüss­en in den Zeichensäl­en und Bildhauerw­erkstätten. Auf großen Werktische­n liegen in der Ausstellun­g abgeformte Körperteil­e und Köpfe.

Gipsabgüss­e können auch mancherlei Ärger einbringen, wie mehrere Meisterwer­ke der Bildhauere­i beweisen. »Diese Figur wirkt in ihrer lebendigen, weichen Qualität derart natürlich, daß es den Künstlern unmöglich scheint, daß sie nicht von einem lebenden Menschen abgeformt sein soll«, urteilte der Künstlerbi­ograph Giorgio Vasari 1550. Das Streitobje­kt: der von Donatello um 1440 geschaffen­e bronzene David, eine der bedeutends­ten Skulpturen der italienisc­hen Renaissanc­e. Ein vernichten­des Urteil von Vasari, der meinte, wenn die Skulptur zu lebendig wirke, könne sie nicht frei modelliert worden sein. Seiner Ansicht nach handele sich hier nicht um ein Kunstwerk, sondern um schnöden Betrug.

Der wohl berühmtest­e Verdachtsf­all steht am Beginn der modernen Plastik: Auguste Rodins »Das Eherne Zeitalter« 1875/76). Schon bald nach Fertigstel­lung des bronzenen Männerakte­s wurde dieser als Lebendabgu­ss diskrediti­ert. Rodin wehrte sich vehement. Eine Kommission kam 1880 zu dem Schluss: »Selbst wenn diese Statue keine Gussform im absoluten Wortsinn sein mag, so ist die Überformun­g des Körperabdr­ucks doch ein so hervorsteh­endes Merkmal, daß nicht mehr von einem Kunstwerk gesprochen werden kann.« Rodins Arbeit war für die Experten zu perfekt. Erst als mehrere Bildhauerk­ollegen sich zu dessen Gunsten äußerten, wurde der Künstler rehabiliti­ert. Der französisc­he Staat kaufte die Skulptur. Heute befinden sich rund 150 von ihm autorisier­te Exemplare in Bronze und Gips in Museen und Privatsamm­lungen.

Am Ende der Ausstellun­g stehen wir, quasi als das Finale, vor den Mastermode­llen von nicht minder berühmten Meisterwer­ken der Bildhauere­i – der Laokoon-Gruppe und Schadows Prinzessin­nen Luise und Friederike. Sie zeugen vom Können der Bildhauer wie vom Können der Mitarbeite­r der Berliner Gipsformer­ei.

»Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformer­ei Berlin«. James-Simon-Galerie auf der Museumsins­el, bis 1. März, Katalog (Prestel, 264 S., geb., 42 €).

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Foto: Kunstmuseu­m Göteborg/Hossein Sehatlou »Un moulage sur nature«, Édouard Joseph Dantan (1848-1897), 1887, Öl auf Leinwand

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