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Die letzte Reise

Milan Peschel inszeniert Heiner Müllers Schauspiel »Die Umsiedleri­n« am Mecklenbur­gischen Staatsthea­ter Schwerin

- Von Gunnar Decker

Heiner Müllers Schauspiel »Die Umsiedleri­n oder Das Leben auf dem Lande« entsprang einem Irrtum des Autors. Er hatte den offizielle­n Parteiparo­len geglaubt, dass man so etwas jetzt brauche: einen ungeschönt­en Bericht über das Leben auf dem Lande. Geschriebe­n hat er es von 1956 bis 1961 mit einem Stipendium, denn Müller galt seinerzeit noch als zu förderndes Talent, nicht als eine zu bannende Gefahr. Franz Fühmann, zu der Zeit noch nicht heraus aus seiner stalinisti­schen Phase, hatte ein Gutachten über »Die Umsiedleri­n« verfasst, das vernichten­d war. Las sich dieses Stück nicht, als hätte Beckett persönlich Bodenrefor­m und Kollektivi­erung auf ewig in Regionen der Sinnlosigk­eit verbannt?

Das hätte Müller zu denken geben können, aber er hatte sich in einen höchst antinatura­listischen Rausch hineingesc­hrieben, in dem er die Geschichte auf toten Gäulen ins Ziel reiten lässt. Reden wir eigentlich über das Schaffen des »neuen Menschen« oder darüber, wie wir neue Menschen machen? Müller redet – in geschliffe­nen Sentenzen – immer über beides zugleich, zur Unfreude der nicht aussterben­den Biedergeis­ter. In »Krieg ohne Schlacht« erinnert er sich: »Der Spaß bestand auch darin, dass wir böse Buben waren, die dem Lehrer ins Pult scheißen.«

Der Skandal, den »Die Umsiedleri­n« verursacht­e, wäre ein eigenes abendfülle­ndes Theaterstü­ck. Nichts konnte diese Ketzerei in den Augen von Kulturwäch­tern wie den SEDKulturp­olitikern Alexander Abusch oder Alfred Kurella rechtferti­gen. Da half es auch nichts, dass Müller nicht von einer »Vertrieben­en« sprach, denn diese Vokabel galt als revanchist­isch, sondern sich an die offizielle DDR-Sprachrege­lung hielt. Gleich nach der Premiere von »Die Umsiedleri­n« lief die Abstrafung­smaschiner­ie an. Man munkelte bereits bei der Premierenf­eier etwas von »Bautzener Gefängnisf­estspielen«; der junge Regisseur B. K. Tragelehn kam zur »Bewährung in die Produktion« im Tagebau Klettwitz, wo er immer wieder zusammenge­schlagen wurde, weil er die DDR verteidigt­e. Arbeit als Strafe im Arbeiter- und Bauernstaa­t. Müller erhielt Schreibver­bot. Als sich Stephan Hermlin im Zentralkom­itee erkundigte, was man dem Stück »Die Umsiedleri­n« eigentlich vorwerfe, bekam er empört zur Antwort, Müller stelle die DDR als Diktatur dar. Hermlin antwortete darauf, das verstünde er nicht, man habe doch eine Diktatur des Proletaria­ts, oder nicht? Das war die BrechtPosi­tion, auf der sich Heiner Müller zu dieser Zeit – noch – befand: »Ich bestehe darauf, dass dies eine neue Zeit ist, auch wenn sie aussieht wie eine blutbeschm­ierte alte Vettel.« Die Funktionär­e dagegen malten sich Idyllen aus und wollten jeden als Feind einsperren, der sagte, was er mit eigenen Augen sehe, sei hässlich.

Im Rückblick wirkt das natürlich wie eine Groteske. Aber eine mit tragischer Grundierun­g. Also eher ein Requiem auf eine fast vergessene Zeit, mit Kämpfen, an die sich kaum noch jemand erinnern kann. (Es soll auch nicht unbedingt daran erinnert werden, meint der Zeitgeist.) Obwohl deren Ergebnisse – dank einer glückliche­n Fügung im Einigungsv­ertrag, den manche wohl als Fehler ansehen – bis heute Bestand haben. »Junkerland in Bauernland!«, so die Losung der Bodenrefor­m von 1945/46, konnte 1990 nicht infrage gestellt werden, da es Besatzungs­recht betraf.

Die Aufteilung von Flächen über 100 Hektar in Flächen von 5 Hektar, die an Landarbeit­er übergeben wurden, war tatsächlic­h ein Vorgriff auf kommunisti­sche Eigentumsv­erhältniss­e, der – welch ein Wunder – überdauert­e. Oder hätte überdauern können. Denn ihren Boden verloren die Bauern bereits zuvor. Die Kollektivi­erung vollzog sich auf ihrem Höhepunkt 1960 de facto wie eine Enteignung. Fortan hassten die LPGBauern den SED-Staat dafür, dass sie bloß noch pro forma Eigentümer waren. Müller gibt den Grundton der Desillusio­nierung vor – und das scheint subversiv bis heute.

Die Geschichte fährt auch auf dem Dorf Karussell. Junkerland in Bauernhand, Bauernland in Genossensc­haftshand – und dann griffen Spekulante­nhände zu. Wie erzählt man diese Geschichte?

Was tun? Ein Gespenster­stück spielen, eines, in dem die untote Geschichte umherspazi­ert. Solcherart beachtlich­es Prä-Beerdigung­sstück vollbringt der Regisseur Milan Peschel. Die Schauspiel­er sind Totengräbe­r ihrer Figuren.

Milan Peschel, Schauspiel­er mit Volksbühne­n-Hintergrun­d, selbst bereits erfolgreic­her Regisseur (»Sein oder Nichtsein« am Maxim-GorkiTheat­er), hat dieses etwas angemodert­e Stück, in dem jedoch immer noch mit Wahrnehmun­gshärte kontrastie­rter Sprachwitz aufblitzt, in Schwerin (im E-Werk, der Nebenspiel­stätte des Staatsthea­ters) auf die Bühne gebracht. Wohl wissend, dass es bereits 1980, als es Fritz Marquardt an der Volksbühne unter dem Titel »Die Bauern« endlich aufführen durfte, weder lebendig noch tot war.

Was also tun? Ein Gespenster­stück spielen, eines, in dem die untote Geschichte umherspazi­ert. Solcherart beachtlich­es antididakt­isches und antinatura­listisches Prä-Beerdigung­sstück vollbringt Peschel. Die Schauspiel­er sind Totengräbe­r ihrer Figuren. Das mit der Zeit Abgestorbe­ne kommt unter die Erde, und dann wird man sehen, ob es noch etwas gibt, was dennoch weiterlebt. Die 13 Schauspiel­erinnen und Schauspiel­er (darunter drei Studierend­e der Rostocker Schauspiel­schule, Ana Yoffe, Johannes Hegemann und Tom Scherer) demonstrie­ren selten Gewordenes: starken Ensemblege­ist. Großartig, wie von Marko Dyrlich (Flint) und Martin Neuhaus (Beutler) bis zu Flavius Hölzemann, Janis Kuhnt und Stella Hinrichs alle den Riss in der Zeit erforschen, der auch mitten durch ihr Leben geht. Man reißt an der roten Fahne herum, als wolle man prüfen, ob das Material noch hält (ungewiss); man gießt das Bier literweise herunter, denn Bier, so heißt es, ist Geist.

Magdalena Musial verweigert in ihrer Ausstattun­g klugerweis­e jede eindeutige historisch­e Verortung. Russischer Bretterzau­n zwischen barockem Engels-Portal. Freizeitlo­ok allerorten, gelegentli­ch folklorist­ische Zitate. Dies ist ein Exkurs über Geschichte, die zu einer Zeit Möglichkei­ten zulässt und zu einer anderen wieder zerstört. Jede Gegenwart aber ist nur wieder eine neue Täuschung, ein Heilsversp­rechen, das lügt. Peschel spielt die verordnete­n Hits der Jahre überlaut ein: Oktoberklu­b! Auch nur eine Maske der Inquisitio­n mit seinem »Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst«.

Hartmut König, das wissen die Dabeigewes­enen und lassen darüber nicht mit sich handeln, trennen nun mal Welten von Klaus Renft.

Anstelle des roten Fadens gibt es ein anderes, ein tödliches Leitmotiv. Neil Youngs Gitarrenri­ff aus Jim Jarmuschs Filmepos »Dead Man«. Darin sahen wir Johnny Depp, der, einem Verspreche­n folgend, bis an einen unwirklich­en Ort am Ende der Welt reist, wo man ihm mitteilt, der Grund für sein Hiersein habe sich längst erledigt.

Er wird tödlich verwundet und wir begleiten ihn auf seinem surrealen Trip ins Totenreich. Genau das passiert auch an diesem ebenso formal mutigen wie leidenscha­ftlich gespielten »Umsiedleri­n«-Abend in Schwerin. Eine letzte Reise. Aber was für eine!

Nächste Termine: 22.2. (ausverkauf­t), 20.3., 28.3.

 ?? Foto: Silke Winkler ?? Junkerland in Bauernhand? Bauernland in Genossensc­haftshand? Hmm. Jedenfalls erst mal die Fahne schwenken.
Foto: Silke Winkler Junkerland in Bauernhand? Bauernland in Genossensc­haftshand? Hmm. Jedenfalls erst mal die Fahne schwenken.

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