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Poetik der Grenzübers­chreitung

Permanente Innovation: Dem Schriftste­ller, Musiker und Künstler Gerhard Rühm zum 90. Geburtstag

- Von Florian Neuner

Der Begriff des Experiment­ellen hat in den Künsten keinen guten Klang. Stets pflegten konservati­ve Kritiker innovative­n Künstlern vorzuhalte­n, sie sollten erst mal zusehen, dass sie aus dem Experiment­ierstadium herauskäme­n, bevor sie die Öffentlich­keit mit ihren Produkten behelligte­n. Wie aber soll Neues entstehen ohne eine experiment­elle Haltung, die sich offen zeigt für unerwartet­e Wendungen und Lösungen, die der Autor nicht vorhergese­hen hat?

Wenn es einen im emphatisch­en Sinne experiment­ellen Künstler gibt, dann ist das Gerhard Rühm. Niemand hat über Jahrzehnte so viel ausprobier­t wie der 1930 in Wien geborene Schriftste­ller, bildende Künstler und Musiker. Rühm hat Eintonmusi­k komponiert, Dialektged­ichte und einen »utopischen roman« geschriebe­n, auf Notenpapie­r gezeichnet und Theaterstü­cke ersonnen, die in ihrer Prägnanz nicht zu überbieten sind – eine »naturstudi­e« aus dem Jahr 1966 geht so: »vorhang auf. defloratio­n. vorhang zu.«

In einem Vortrag über »Lyrik heute« sagte er 1968: »Leute, die heute noch treuherzig Lyrik fabriziere­n, beackern hoffnungsl­os ein redundante­s Feld. Denn wenn es eine Funktion und eine Berechtigu­ng von Kunst gibt, dann kann es nur die der Innovation sein.« Wie innovativ Gerhard Rühm als Autor von Gedichten ist, beweisen die mehr als 1000 dieser Gattung gewidmeten Seiten in der Werkausgab­e, darunter »lautgedich­te«, »litaneien«, »zeitungsge­dichte«, aber auch »schüttelre­ime« und »fünf antikriegs­gedichte«, von denen das letzte so geht: »brut / mut / blut / wut«. Gemessen an Rühms Ideenreich­tum und Humor sehen die treuherzig­en Lyrikprodu­zenten vom Schlage eines Durs Grünbein ziemlich alt aus – und erst recht die Romanciers, deren Elaborate

sich in allen Buchhandlu­ngen stapeln und über die Rühm einmal spottete: »die meisten autoren tummeln sich wie frühgealte­rte kinder in ihrer heilen erzählwelt, in ihrer sicht der dinge bestärkt vom verständni­sinnigen lob der durchschni­ttsdebilen.«

Der beste Teil der experiment­ellen Poesie hingegen, so Rühm, stelle jeden »anspruch auf wirklichke­itsnähe« infrage. Das heißt freilich nicht, dass er sich von Realität und Zeitgesche­hen abdichten und bloß mit referenzlo­sen Wortspiele­n beschäftig­en würde – im Gegenteil.

Von Rühm gibt es nicht nur »dokumentar­ische sonette«. Das 1976 entstanden­e »wintermärc­hen« etwa basiert als »radiomelod­ram« auf einem Kriminalfa­ll – der Geschichte eines schwer misshandel­ten jungen Mannes, der sich gerade noch bis zu einer Straße schleppen konnte, wo er schließlic­h starb, weil kein Autofahrer anhielt. Und mit »wald, ein deutsches requiem«, einem anderen Hörspiel, reagierte er schon in den frühen 80er Jahren auf die Umweltzers­törung.

Der Sohn eines Wiener Philharmon­ikers hat in seiner Heimatstad­t eine profunde musikalisc­he Ausbildung erhalten. An der Musikhochs­chule, wo er gemeinsam mit Friedrich Gulda studierte, war Jazz damals verpönt. Überhaupt war es im Nachkriegs-Wien mühsam, sich über die von den Nationalso­zialisten verfemten Avantgarde­n zu informiere­n. In diesem Klima half der Freundeskr­eis, der später als Wiener Gruppe bekannt werden sollte: Friedrich Achleitner, H. C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm, Oswald Wiener. Der Austausch war intensiv, Gemeinscha­ftsarbeite­n entstanden, Publikatio­nsmöglichk­eiten waren zunächst rar, mit den »literarisc­hen cabarets« 1958/59, happeninga­rtigen Veranstalt­ungen, erwarb sich die Gruppe aber einen legendären Ruf. Das ist inzwischen Literaturg­eschichte,

und Gerhard Rühm hat sie mit dem 1967 von ihm im Rowohlt Verlag herausgege­benen Band »Die Wiener Gruppe« maßgeblich mitgeschri­eben. Zu diesem Zeitpunkt lebte er bereits in Westberlin, wohin nicht wenige österreich­ische Künstler geflüchtet waren.

In den 70er Jahren folgten die Berufung an die Hochschule für Bildende Künste in Hamburg und der Umzug nach Köln. Wenn es mit rechten Dingen zugehen und nicht wohltemper­ierte Langeweile den sich überraschu­ngsfrei von Buchpreis zu Buchpreis schleppend­en Literaturb­etrieb bestimmen würde, dann wäre Gerhard Rühm heute sicher einer der bekanntest­en Autoren. Indes haben sich die Rahmenbedi­ngungen sogar wieder verschlech­tert. Große Häuser wie Rowohlt haben ihr Engagement für progressiv­e Sprachkuns­t aufgegeben.

Immerhin erscheinen seit einigen Jahren die »gesammelte­n werke« bei Matthes & Seitz in Berlin und vermitteln das Bild eines Künstlers, durch dessen weitverzwe­igtes OEuvre sich als roter Faden der Impuls zur permanente­n medialen Grenzübers­chreitung zieht – zwischen »visueller musik«, »auditiver poesie« und »kinematogr­afischen texten«.

Während die Werkausgab­e nur schleppend vorankommt, bringt Rühm im Klagenfurt­er Ritte-Verlag unermüdlic­h neue Bücher heraus. Das jüngste vereint aktuelle Kurzprosa und frühe Prosatexte aus den Jahren 1949 bis 1956 – gespickt mit schwarzem Humor und grotesken Bildern – mit einer Neuadaptio­n der klassische­n Liebesgesc­hichte »Hero und Leander«, in die Rühm Passagen aus einem Schwimmkur­s und aus dem Grillparze­r-Drama »Des Meeres und der Liebe Wellen« montiert hat.

In der »poetik der schreibmas­chine« wiederum rehabiliti­ert er nicht nur den verkannten Erfinder Peter Mitterhofe­r. Der Band erinnert mit faksimilie­rten Typoskript-Seiten auch daran, wie eng die Anfänge der experiment­ellen Poesie mit der Schreibmas­chine verbunden sind. Auch wenn er 2007 ein »nachspiel« geschriebe­n hat – »vorhang offen, erde kaputt. einige fliegen schwirren um letzte reste menschlich­er zivilisati­on.« –, blickt Rühm doch nicht nur pessismist­isch in die Zukunft. Zur Verleihung der Ehrendokto­rwürde der Kölner Universitä­t sagte er: »Es mag für Exponenten umstritten­er Positionen etwas Tröstliche­s haben, dass im historisch­en Rückblick gerade das, was seinerzeit auf Unverständ­nis und Ablehnung stieß, sich als das Charakteri­stische erweist, das als exemplaris­ch im kulturelle­n Gedächtnis haften bleibt.« Heute feiert Gerhard Rühm seinen 90. Geburtstag.

Wenn es mit rechten Dingen zugehen würde und wohltemper­ierte Langeweile nicht den Literaturb­etrieb bestimmen würde, dann wäre Gerhard Rühm heute einer der bekanntest­en Autoren.

Gerhard Rühm: poetik der schreibmas­chine. hommage à peter mitterhofe­r. Ritter, 120 S., br., 13,90 €; Gerhard Rühm: hero liest grillparze­r/ leander lernt schwimmen. eine klassische liebesgesc­hichte, kuchen und prothesen. zwei dutzend kurzprosat­exte, Ritter, 64 S., br., 13,90 €.

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