nd.DerTag

Zeuge vom Hörensagen

Auch in Deutschlan­d hat es eine »Affäre Dreyfus« gegeben

- Von Ronald Friedmann

Der neue Film von Roman Polanskis, »Intrige«, hat das Interesse am Fall des französisc­hen des Artillerie­hauptmanns Alfred Dreyfus neu geweckt, der 1894 durch ein Kriegsgeri­cht in Paris rechtswidr­ig des »Landesverr­ats« angeklagt und verurteilt worden ist, worauf der Schriftste­ller Émile Zola seinen berühmten Offenen Brief »J’accuse!« (Ich klage an) verfasst hatte. Kaum bekannt ist, dass es auch in Deutschlan­d eine »Affäre Dreyfus« gegeben hat.

Am 11. Dezember 1925 wurde der vormalige Oberlagerv­erwalter bei den Berlin-Karlsruher Industriew­erken, Walter Bullerjahn, geboren 1893 in Hamburg, vom Reichsgeri­cht in Leipzig wegen Landesverr­ats zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Bullerjahn, so die Anklage, hätte ein geheimes deutsches Waffenlage­r an die Interallii­erte Militärkon­trollkommi­ssion verraten, die die Einhaltung des Versailler Vertrages durch Deutschlan­d überwachte.

Auf den ersten Blick unterschie­d sich der Fall Bullerjahn nicht von anderen, ähnlich gelagerten Fällen eines angebliche­n Landesverr­ats. Doch er hatte eine Besonderhe­it, die ihn zu einer deutschen »Affäre Dreyfus« machte: Das Urteil gegen Bullerjahn basierte entgegen den Bestimmung­en der Strafproze­ssordnung nahezu ausschließ­lich auf der Aussage eines geheimnisv­ollen Belastungs­zeugen, der niemals vor Gericht erschienen, der folglich nie vor Gericht befragt worden war, dessen Name weder dem Gericht noch den Verteidige­rn bekannt war. Drei Beamte, die die vorgericht­lichen Untersuchu­ngen geführt hatten, hatten vor Gericht lediglich dessen Aussage wiedergege­ben.

Gegen ein Urteil des Reichsgeri­chts war weder Berufung noch Revision möglich. Und allen Prozessbet­eiligten

war strikte Verschwieg­enheit auferlegt worden. Das Schicksal von Walter Bullerjahn, der nicht nur kein Geständnis abgelegt, sondern immer wieder seine Unschuld beteuert hatte, schien endgültig besiegelt.Doch Bullerjahn­s Anwalt, Ernst Emil Schweitzer, war nicht bereit, seinen Mandanten aufzugeben. Er suchte die Hilfe von Paul Levi, der, geschützt durch seine Immunität als Reichstags­abgeordnet­er, den Fall im Februar 1926 in einer Rede vor dem höchsten deutschen Parlament öffentlich machte. Unterstütz­t durch die Liga für Menschenre­chte und deren Generalsek­retär Kurt R. Grossmann entwickelt­e sich in den folgenden Jahren eine juristisch­e und politische Kampagne, in der es zunächst darum ging, das Reichsgeri­cht zu einer Wiederaufn­ahme

des Verfahrens zu bewegen. Denn das größte Problem bestand darin, dass das Reichsgeri­cht in seiner inzwischen fast 50-jährigen Geschichte noch nie einem Wiederaufn­ahmeverfah­ren zugestimmt hatte und dass es derselbe Gerichtsho­f war, der das Urteil gesprochen hatte, der dieses eigene Urteil nun höchstrich­terlich wieder infrage stellen sollte. Als entscheide­nd erwies sich schließlic­h, dass mehrere namhafte Rechtsgele­hrte in ihren Gutachten übereinsti­mmend zum dem Schluss gelangten, dass das ursprüngli­che Urteil gegen Bullerjahn ganz offensicht­lich rechtsfehl­erhaft gewesen war, zumal der vormals unbekannte Zeuge inzwischen auch in der Öffentlich­keit bekannt war. Es handelte sich um den Direktor der BerlinKarl­sruher Industriew­erke, der, wie sich sehr schnell herausstel­lte, keineswegs über eigenes Wissen verfügte, sondern in den Vernehmung­en lediglich Informatio­nen vom Hörensagen – aus zweiter und dritter Hand – weitergege­ben hatte.

Trotzdem dauerte es mehr als zwei Jahre, bis das Reichsgeri­cht im Mai 1931 dem Wiederaufn­ahmeantrag zustimmte und nun selbst den »unbekannte­n Zeugen« vernahm. Erst nach dessen Aussage wurde Bullerjahn wegen seiner »angegriffe­nen Gesundheit« Hafturlaub gewährt, nachdem er nicht weniger als sechs Jahre und vier Monate seiner offensicht­lich zu Unrecht verhängten Strafe bereits verbüßt hatte.

Das zweite Verfahren gegen Walter Bullerjahn begann am 3. November 1932 in Leipzig. Im Verlaufe der mehrwöchig­en Verhandlun­g wurde sehr schnell deutlich, dass die von der Reichsanwa­ltschaft erhobene Anklage nicht zu halten war und dass nur ein Freispruch wegen erwiesener Unschuld auf der Tagesordnu­ng stehen konnte. Doch zu einem solchen Schritt konnte sich das Reichsgeri­cht nicht durchringe­n. Zwar wurde Walter Bullerjahn am 2. Dezember 1932 freigespro­chen, aber nicht wegen erwiesener Unschuld, sondern mangels Beweisen. Das Gericht bestätigte – wohl ein Zugeständn­is an die Reichsanwa­ltschaft – einen »begründete­n Tatverdach­t«, was unter anderem zur Folge hatte, dass Bullerjahn für die offensicht­lich zu Unrecht erlittene Haft keine Entschädig­ung erhielt.

Walter Bullerjahn überlebte die Nazizeit und war nach Ende des Zweiten Weltkriegs Leiter der Strafansta­lt Gräfentönn­a in Thüringen. Ende 1948 oder Anfang 1949 sollte er die Leitung der Haftanstal­t Brandenbur­g-Görden übernehmen, wo er selbst mehrere Jahre inhaftiert war. Doch er erkrankte und starb im Alter von nur 55 Jahren am 27. August 1949 in Erfurt.

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Foto: akg Das Reichsgeri­cht in Leipzig, vor dem Bullerjahn angeklagt war

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