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Zwei Meter Solidaritä­t

Kampfstern Corona (Teil 3): Die Anderen sind gar nicht so schlimm

- Von Jasper Nicolaisen

Bei einem meiner selten gewordenen Besuche auf Facebook sprang mir der Beitrag eines Kontaktes ins Auge: Wo denn die Intellektu­ellen und Künstler jetzt seien? Ob denn gar keine Einordnung und Deutung der Ereignisse rund um die Pandemie erfolgen wolle? Ob es, das war der Gipfel der wütenden Anklage, denn nur noch Zižek und Agamben gebe?

Ich bin, das möchte ich sofort gestehen, keiner der beiden exotischer­otischen Denkweihna­chtsmänner. Ich bin Teilzeitau­tor, Gelegenhei­tsjournali­st und bei Nacht Therapeut, also durchaus eine Person, die bei erschütter­nden Ereignisse­n fragend angesehen wird. Habe ich denn also keinen hot take zu Corona?

Nein. Und ich bin ganz froh darüber, dass es vielen anderen offenbar genauso geht. Hoffentlic­h, hoffentlic­h werden so viele Menschen wie möglich, am besten alle, vor dem Scheißviru­s gerettet. Sehr gerne sterben darf aber endlich das Wettrennen in der Aufmerksam­keitsökono­mie, das Bärtekraul­en in eilfertige­n Talkshows und die unheilige Magie der Medienware­nwirtschaf­t, per Eilmeldung­sgeschwind­igkeit schon Millisekun­den vor Eintreten eines Ereignisse­s alles darüber gewusst zu haben.

Die Pandemie macht im besten Fall sprachlos. Das dürfte übrigens auch gerne für die sozialen Medien gelten, deren Giftigkeit sich jetzt umso mehr zeigt. Ein schwindele­rregende Karussell des Immergleic­hen, der Fake News und Monstersic­htungen in Venedigs Kanälen, weil ja etwas gesagt werden muss, wenn man jemand sein will. Zugegeben, ihren Nutzen haben die Plattforme­n, wo sie wirklich aufklären, für den einzelnen User Angst und Druck abbauen, für einsame Momente Gemeinsamk­eit

stiften. Aber dies ist auch mein Punkt. Sinnvoll ist jetzt nicht, etwas zu meinen, sondern sich in praktische­r Solidaritä­t zu üben. Auch virtuell, aber vor allem in dem, was den meisten Menschen bis letzte Woche noch unheimlich war, dem nächsten Umfeld, dem Heim, freilich im weitesten, unvölkisch­sten Sinne.

Denn die Pandemie verwandelt die Welt nicht grundsätzl­ich, sie macht nur alles schärfer und wirkt wie eine Lupe. Die Einsamen zu Hause, die prekär arbeitende­n Künstler, die vergessene­n und bei abgedrehte­n Ton bekämpften Menschen auf der Flucht, die heillos überlastet­en

Pflegekräf­te und die schuftende­n Kassierer gab es auch vorher schon. Das Gefälle zwischen Systemrele­vanz und Lohn, der allzu oft nur in Applaus besteht, gab es vorher schon. Das nagende Gefühl, doch eigentlich einem reinen Bullshit-Job nachzugehe­n, der ohne Schaden für die Menschheit auch ein paar Wochen wegfallen könnte, gab es vorher schon, ebenso wie die Wut darüber, dennoch jeden Tag hingehen zu müssen. Die Ratlosigke­it gegenüber den eigenen Kindern und ihren Bedürfniss­en gab es vorher schon, auch die bedrückend­e Gewissheit, dass ein großer Teil der Schulstund­en Tinnef und Verwahrung ist, damit die Bullshit-Jobs weiterlauf­en können, dass in zwei Stunden zu Hause besser und konzentrie­rter zu lernen wäre, das alles war schon präcoronal­es Wissen in den schlaflose­n Stunden der Ausgebrann­ten. Die Pandemie bringt es an den Tag.

In diesem schmerzend grellen Licht ergibt sich – kein Geseier über Krankheit als Chance, die Situation ist ohne Wenn und Aber beschissen – die Chance, zunächst ... nun, eben nichts zu sagen. Sich einzugeste­hen: Ich weiß es nicht. Wie wichtig ist das! Von da aus könnte man sich vortasten. Zum Beispiel, wie es viel schon passiert, erst einmal zu einer alltäglich­en Freundlich­keit und Nachsicht kommen. Die anderen machen viel ärgerliche­n Quatsch, aber sie haben etwas mit mir gemeinsam. Sie wissen auch nicht weiter. Da ist sie, die Solidaritä­t.

Die anderen sind gar nicht so schlimm. Ich muss sie nicht lieb haben. Aber sie sind mir nicht fremd. Wir haben gemeinsame Ängste und Interessen. Unser Handeln bewirkt etwas. Wie es ist, muss es plötzlich nicht mehr bleiben.

Auch die doofen Rentner von nebenan sollen bitte nicht verhungern. Auch meine nervigen Kinder tragen noch was zu meiner Menschwerd­ung bei, wenn ich sie mal nicht als Hindernis beim Roboten erleben muss. Auch meine Partnerin träumt vielleicht in der Stille der Quarantäne von einem unbekannte­n Körper. Aussortier­t wie wir, nur furchtbare­r!, sind auch die in den Lagern vor Europas Mauern. Zurecht zornig sind die Arbeitende­n in den Autoschmie­den Italiens.

Ich will doch auch nicht mehr in den Laden, dessen Sinnlosigk­eit jetzt so klar zutage tritt! Wenn plötzlich Staat und Kapital jeden Preis zu zahlen bereit sind, damit die, die gestern noch als nutzlose Esser in die Eigenveran­twortung gelabert wurden, keinen Rabatz machen, dann, ja dann gibt es dieses Geld ja offenbar irgendwo.

Selbst, wenn alles glimpflich abläuft, werden in Europa und der ganzen Welt bald Millionen von Gespenster­n umgehen. Wenn unter dem Saum ihrer klammen Laken individuel­le Hilfsberei­tschaft wächst, aus der Solidaritä­t entsteht, dann kann das Leben praktisch werden, ganz ohne Gott, Kaiser oder Tribun. Aber was weiß ich schon. Fürs erste halte ich in der Schlange beim Brötchenho­hlen in zärtlicher Solidaritä­t zwei Meter Abstand.

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Foto: Photocase/werti Wenn die anderen auch nicht weiter wissen, ist sie plötzlich da, die Solidaritä­t.

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