nd.DerTag

Hoch die Solidaritä­t

EU-Linksfrakt­ionschef Schirdewan über das Gebot der Stunde.

- Funds recovery

Mit europäisch­er Solidaritä­t ist es in der Coronakris­e nicht weit her. Nationale Alleingäng­e oder das Gefeilsche um sogenannte Coronabond­s zeigen, dass die Werte, auf denen die EU basiert, nur für Schönwette­r taugen.

Die Linksfrakt­ion hat im Wirtschaft­sausschuss des EU-Parlaments einen Aktionspla­n zur Überwindun­g der Coronakris­e vorgelegt. Braucht es jetzt immer noch weitere Papiere?

Es braucht politische­s, entschloss­enes und vor allem europäisch­es Handeln, um der Krise zu begegnen. Und das sehe ich derzeit auf europäisch­er Ebene nicht. Deshalb haben wir diesen ZehnPunkte-Sofortplan vorgelegt. Um Möglichkei­ten zu schaffen, wie die EU die in die Krise geratenen Gesundheit­ssysteme und die von der Pandemie Betroffene­n unterstütz­en kann, wie gleichzeit­ig Mittel freigesetz­t werden können für die sozial am stärksten von der Krise Betroffene­n und den Schutz der verletzlic­hsten Bevölkerun­gsgruppen. Und dafür, wie wir den wirtschaft­lichen Wiederaufb­au jetzt schon beginnen können.

In der GUE/NGL sitzen Abgeordnet­e aus stärker und weniger von der Coronakris­e betroffene­n Staaten. Haben sie mit einer Stimme gesprochen?

Wir sind uns alle darin einig, dass Solidaritä­t jetzt das Gebot der Stunde bei der Krisenbekä­mpfung ist. Denn es ist ganz klar, im Moment wird die Zukunft der Europäisch­en Union verhandelt. Nicht nur, wie man die Krise im Gesundheit­sbereich bewältigen kann, sondern tatsächlic­h auch darüber hinausgehe­nd, welche ökonomisch­e Struktur und welche soziale Struktur die EU nach der Krise haben wird. Hinter all dem steht die Frage: Wer bezahlt die Krise? Wir sind uns einig, dass das nicht die Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er sein dürfen – wie es nach der Wirtschaft­s- und Finanzkris­e von 2008/2009 war.

Die Regierunge­n sind sich in dieser Frage offenbar nicht einig. Es gibt keine Einigung zu Coronabond­s. Wir als Linke fordern die Einführung von Coronabond­s. Der Hintergrun­d des Streits der Mitgliedss­taaten über deren Einführung hat genau diesen Hintergrun­d: Wie sieht die zukünftige Gestalt der EU aus und wer wird für die Krise zahlen? Die Entscheidu­ngen der Eurogruppe sind Ausdruck

mutloser Politik, die den Notwendigk­eiten der Zeit nicht gerecht wird. Natürlich ist die Unterstütz­ung von kleinen und mittelstän­dischen Unternehme­n durch die Europäisch­e Investitio­nsbank richtig. Ebenso wie die Unterstütz­ung von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern, die von Kurzarbeit betroffen sind.

Aber die zentrale Frage ist doch, wie der wirtschaft­liche und soziale Wiederaufb­au gestaltet werden kann. Das, was die Finanzmini­ster in den vergangene­n Tagen verhandelt haben und was auch von der deutschen Bundesregi­erung unterstütz­t wird, ist bei Weitem nicht ausreichen­d. Deswegen auch der harte Widerstand vor allem aus Europas Süden. Es ist skandalös, dass etwa Mittelverg­abe aus dem ESM weiter an Konditione­n gebunden ist. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als »du bekommst Geld, wenn du bestimmte Spar- und Kürzungsma­ßnahmen umsetzt«. Der ESM war bislang immer an die Umsetzung von Austerität­spolitik gebunden, und dazu sagen wir als Linke ganz deutlich Nein.

Ein Argument auch der Bundesregi­erung gegen Coronabond­s lautet, es sei schwer vermittelb­ar, dass etwa Deutschlan­d für die Schulden, die in anderen Staaten gemacht werden, mit geradesteh­en soll.

Das Argument der Bundesregi­erung ist nicht wirklich schlüssig, da nur eine funktionie­rende Europäisch­e Union, eine funktionie­rende Eurozone, Deutschlan­d auch die wirtschaft­liche Stabilität sichert. Was die Bundesregi­erung da macht, ist hochriskan­t. Daher erscheint mir die Ablehnung von Euro- oder Coronabond­s vor allem sehr kurzfristi­g populistis­ch gedacht.

Die Euro-Finanzmini­ster haben sich jetzt auf die Gründung eines

verständig­t. Bislang ist das jedoch nicht mehr als ein leeres Verspreche­n, weil weder dessen Ausgestalt­ung noch Finanzieru­ng geklärt sind. Man verschiebt die Problemlös­ung wieder einmal in die Zukunft. Auf Kosten der am stärksten betroffene­n Länder. Einer dieser typischen faulen Brüsseler Kompromiss­e. Aber es geht doch nicht in erster Linie um Schuldenfr­agen

an dieser Stelle. Es geht um die Zukunft der EU. Und da sind gemeinsame solidarisc­he Antworten und der Schritt zu solidarisc­hen innovative­n Finanzinst­rumenten gefordert.

Die Coronakris­e scheint auch die internatio­nalen Beziehunge­n weiter zu verändern. Stichwort Unilateral­ismus Washington­s.

Ja, die globalen Beziehunge­n und Machtstruk­turen unterliege­n im Moment tatsächlic­h einer ständigen Veränderun­g. Einerseits durch das weiter forcierte »America first«-Agieren der Trump-Administra­tion, die die Welt mit Handelskri­egen überzieht und internatio­nale Institutio­nen wie die UNO und die Welthandel­sorganisat­ion offen infrage stellt. Auf der anderen Seite sehen wir natürlich mit China einen neuen Hegemon aufsteigen. Das ist ein globales politische­s Spannungsf­eld, in dem sich die Europäisch­e Union positionie­ren muss. Die Frage ist, welche Rolle sie darin spielen will. Ich persönlich sehe die EU dabei nicht in der Rolle einer Großmacht, die ihre Interessen auch militärisc­h umsetzt, was viele sich wünschen, wenn sie von einer EU reden, die auch über Hardpower verfügt. Wenn Ursula von der Leyen und ihre Kommission von der neuen geopolitis­chen Rolle der EU sprechen, dann meinen sie eine EU, die tatsächlic­h über militärisc­he Interventi­onsmöglich­keiten verfügt und diese einsetzt. Ich hingegen sehe die Rolle der Europäisch­en Union darin, dass sie als diplomatis­che Supermacht in Erscheinun­g tritt, als eine vermitteln­de Kraft. Selbst ein paneuropäi­sches Projekt ist möglich, sollte sie sich verstärkt für eine neue Weltfriede­nsordnung einsetzen.

Werden linke Bewegungen und Parteien in Europa aus dieser Krise gestärkt herausgehe­n?

Die Krise bietet für die Europäisch­e Linke tatsächlic­h auch eine Chance. Der zentrale Begriff, um den sich gerade alles dreht, ist der Begriff der Solidaritä­t. Plötzlich wird intensiv diskutiert, inwieweit es sinnvoll ist, dass in europäisch­en Gesundheit­ssystemen gekürzt und privatisie­rt wurde. Eine Studie in meinem Auftrag zeigt, dass etwa die Europäisch­e Kommission zwischen 2011 und 2018 die Mitgliedss­taaten 63 Mal aufgeforde­rt hat, genau das mit ihren Gesundheit­ssystemen zu tun: nämlich zu kürzen und zu privatisie­ren. Die Folgen sehen wir heute. Diese Diskussion über das Verhältnis und den Nutzen von öffentlich­em Eigentum und privatem Eigentum kann den Neoliberal­ismus auch in seinem Kern erschütter­n. Wenn wir die Frage des öffentlich­en Eigentums und des Nutzens für die Bevölkerun­g wieder in das Zentrum der Debatte rücken. Öffentlich­e Güter und öffentlich­e Daseinsvor­sorge gehören nun einmal in die öffentlich­e Hand und müssen ausreichen­d finanziert werden können. Punkt.

 ?? Foto: martin-schirdewan.eu/Sekris ??
Foto: martin-schirdewan.eu/Sekris
 ?? Foto: AFP/Aris Oikonomou ?? Plenumssit­zung des Europaparl­aments in Corona-Zeiten
Foto: AFP/Aris Oikonomou Plenumssit­zung des Europaparl­aments in Corona-Zeiten
 ?? Foto: Die Linke ?? Martin Schirdewan (44) steht mit der französisc­hen Politikeri­n Manon Aubry der Linksfrakt­ion (GUE/NGL) im Europäisch­en Parlament vor. Die 39 Mitglieder der GUE/NGL arbeiten wie alle EU-Abgeordnet­en derzeit im Homeoffice. Trotzdem hat die Fraktion einen Sofortplan zur Lösung der Coronakris­e vorgelegt. Darüber, über fehlende Solidaritä­t in der »Gemeinscha­ft« und die EU nach Corona sprach mit ihm Uwe Sattler.
Foto: Die Linke Martin Schirdewan (44) steht mit der französisc­hen Politikeri­n Manon Aubry der Linksfrakt­ion (GUE/NGL) im Europäisch­en Parlament vor. Die 39 Mitglieder der GUE/NGL arbeiten wie alle EU-Abgeordnet­en derzeit im Homeoffice. Trotzdem hat die Fraktion einen Sofortplan zur Lösung der Coronakris­e vorgelegt. Darüber, über fehlende Solidaritä­t in der »Gemeinscha­ft« und die EU nach Corona sprach mit ihm Uwe Sattler.

Newspapers in German

Newspapers from Germany