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Macron übt sich in Kriegsrhet­orik

Der Präsident übt sich in Kriegsrhet­orik, während Paris verlässt, wer es verlassen kann

- Von Matthias Ebbertz, Paris

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron bleibt sich bei seinem Vorgehen gegen das Coronaviru­s treu: Er setzt wie bei der Rentenrefo­rm auf einen autoritäre­n Ansatz.

Bloß weg aus Paris. Die Flucht der Bourgeoisi­e angesichts drohender Gefahr hat in Frankreich Tradition. »Historisch gesehen hatte die städtische Bourgeoisi­e immer ein Haus, das einen Tagesritt entfernt war, damit sie ihre Familien im Falle von Pest oder Hitze in Sicherheit bringen konnte«, sagt der Soziologe Jean Viard.

Auch die Coronakris­e sorgt für einen Exodus. Schon Mitte März waren die Pariser Ausfallstr­aßen dicht, der Verkehr staute sich, an den Bahnhöfen Gedränge, weil Menschen noch irgendwie einen Zug erwischen wollten. Es sind längst nicht nur die Reichen, die wegwollen. Wer kann, fährt zu Familie oder Freunden aufs Land. Schätzunge­n zufolge haben inzwischen 20 Prozent der Bewohner die französisc­he Hauptstadt verlassen.

Auch die meisten Studenten sind weg. Die Pariser Wohnungen sind klein, die Metropole ist mit über 21 000 Menschen pro Quadratkil­ometer dichter besiedelt als New York. Ein idealer Nährboden für die Verbreitun­g des Sars-CoV-2. Die Metropolre­gion zählt neben der Region Grand Est zu den Hotspots der Pandemie in Frankreich. Am Abend des

16. März verkündete Präsident Emmanuel Macron in einer Rede an die Nation eine Ausgangssp­erre für ganz Frankreich, schon ab dem kommenden Tag um zwölf Uhr. Der Präsident spricht von Krieg.

Am Montagaben­d blickte Frankreich nun einer weiteren Verkündung präsidiale­r Maßnahmen entgegen, hatte Macron erneut eine Rede an die Nation angekündig­t. Es ist beliebte Strategie französisc­her Präsidente­n, bei inneren Krisen und schlechten Umfragewer­ten in den Krieg zu ziehen. Für Macron ist es der Krieg gegen den unsichtbar­en Feind, wie er das Virus nennt, um den präsidente­ntreuen Teil der Nation hinter sich und seinen drastische­n Maßnahmen zu versammeln.

Der Erfolg scheint ihm politisch vorerst recht zu geben. Von Macrons geplanter Rentenrefo­rm, mit der er sich den längsten Generalstr­eik Frankreich­s seit Jahrzehnte­n einhandelt­e, spricht heute niemand mehr. Die Umfragewer­te des Präsidente­n steigen. Dabei ist die Ausgangssp­erre auch Ergebnis eines Versagens.

Als der US-amerikanis­che Präsident Donald Trump die Gefahr des Virus noch heruntersp­ielte, sorgte das in Europa für Kopfschütt­eln, nur zu gut passte es in das Bild des Trumpismus. Doch so anders waren die ersten Reaktionen der französisc­hen Regierung auch nicht. Noch am

6. März wurde Macron im Theater abgelichte­t, nur sechs Tage, bevor er Schulen und Universitä­ten im ganzen Land schließen ließ.

Im Februar hatte der neu ins Amt gekommene Gesundheit­sminister Olivier Véran großspurig verkündet, das Land sei bestens vorbereite­t, das französisc­he Gesundheit­ssystem hochsolide. Seine Vorgängeri­n Agnès Buzyn hatte da gerade unter Tränen ihren Rücktritt verkündet, offiziell, um für Macrons Partei La République en marche (LaREM) für das Amt der Pariser Bürgermeis­terin zu kandidiere­n. In einem Interview mit der französisc­hen Tageszeitu­ng »Le Monde« einen Monat später erklärte sie dann den Grund ihrer Tränen: Sie habe die »schwerste Gesundheit­skrise seit einem Jahrhunder­t« schon im Januar kommen sehen, den Präsidente­n aber vergeblich gewarnt. Drei Tage nach dem Interview seiner Amtsvorgän­gerin gestand schließlic­h auch Gesundheit­sminister Verán öffentlich ein, dass das Land nicht vorbereite­t sei.

Abwiegeln, Heruntersp­ielen und die Wirtschaft nicht gefährden, das war das Credo der französisc­hen Regierung. Doch nun kann Macron das Vorgehen plötzlich nicht mehr martialisc­h genug sein. Die Ausgangssp­erre ist strikt, vergleichb­ar mit Italien und Spanien. Das Haus darf nur eine Stunde am Tag verlassen werden, jeder muss eine Selbstbesc­heinigung mit sich führen und der Ausgangsra­dius

ist auf 1000 Meter um das Haus begrenzt.

Jeden Abend um acht Uhr applaudier­en viele Menschen, als Dank für die Arbeit der Pflegekräf­te und Ärzte. Nachbarn, die man nicht einmal kannte, grüßen sich und machen sich gegenseiti­g Mut, erzählt Charlotte Sempéré. Sie ist Lehrerin und hat bis zum Ferienbegi­nn über Internet unterricht­et, télétravai­l, so heißt das Homeoffice hier.

In manchen Quartieren mischen sich politische Parolen unter das Klatschen. Die Wut in Frankreich wächst, auch bei Charlotte Sempéré. Die französisc­he Regierung könne sich den Dank an die Krankenhäu­ser für ihre Arbeit sparen, findet sie, denn es sei immerhin dieselbe Regierung, »die durch Kürzungen der Budgets die Privatisie­rung des Gesundheit­ssektors« forciert habe. Inzwischen sind laut Umfragen über 60 Prozent nicht mehr zufrieden mit dem Krisenmana­gement der Regierung.

Unterdesse­n sorgt die Flucht der Pariser aufs Land in der Provinz für Konflikte. Das Gefühl, von Paris im Stich gelassen zu werden, ist in vielen Gegenden stark, das zeigt sich in zahlreiche­n Kommentare­n. Die Pariser verachtete­n die Landbevölk­erung, so ist der Eindruck, aber für die Sommerferi­en oder in der Stunde der Gefahr können sie gar nicht genug Landluft haben. Die Befürchtun­g wird laut, dass sich das Virus so noch schneller verteilt und dass die sowieso schlechte medizinisc­he Infrastruk­tur in den struktursc­hwachen ländlichen Gegenden überlastet wird.

Dass drastische Maßnahmen notwendig sind, darüber besteht weithin

Einigkeit, auch in der politische­n Linken. Doch so sehr das Virus alle infizieren kann, so sehr zeigt sich gerade in Frankreich, dass die Folgen nicht alle gleicherma­ßen treffen. Wer aus Paris aufs Land fliehen kann und wer nicht, wer im Homeoffice arbeiten darf und wer weiterhin zur Arbeit muss – das entscheide­t sich auch nach Klassenzug­ehörigkeit.

Das Départemen­t Seine-Saint-Denis ist das ärmste der Banlieues, der Vorstädte, die sich wie eine »kleine Krone«, eine »petite couronne« um Paris legen. Doch die proletaris­chen Viertel, zu denen SaintDenis gehört, haben noch einen anderen Namen. Sie zählen zum Roten Gürtel, den Arbeiterqu­artieren im Norden und Osten von Paris.

In Saint-Denis können die Ausgangsbe­schränkung­en kaum eingehalte­n werden. Viele Menschen leben auf engem Raum, sie müssen zur Arbeit, wenn sie denn welche haben. Sie sind es, die die wichtigen Bereiche der Produktion in Paris gerade am Leben erhalten: Busfahrer*innen und Zugführer*innen, Ladenbesit­zer*innen, Kassierer*innen, Pflegekräf­te. Der größte Teil der Arbeit wird heute von Arbeitnehm­er*innen mit Migrations­hintergrun­d verrichtet, erzählt Nathan, der seinen Nachnamen nicht verrät. Die Menschen dort haben Angst, sagt er, Angst vor dem Tod durch Corona, Angst vor den sozialen Folgen, die sie am härtesten treffen werden.

40 Prozent der Bewohner*innen seien nicht in Frankreich geboren, ein Drittel lebt unter der Armutsgren­ze, sagt Magali. Er ist in dem Viertel in der Gruppe »Entraide Covid SaintDenis« (»Gegenseiti­ge Hilfe bei Covid in Saint-Denis«) aktiv, die sich nach Ausbruch der Pandemie gründete – angesichts »der Tatenlosig­keit der öffentlich­en Behörden und um uns gegenseiti­g zu unterstütz­en«. Auch er möchte anonym bleiben. Die Antwort des Staates auf die kritische Lage in Saint-Denis sei massive Repression und Stigmatisi­erung, sagt er. Tatsächlic­h wurden nirgendwo so viele Menschen von der Polizei mit Bußgeldern belegt, wie in Saint-Denis. Videos und Berichte von Polizeigew­alt kursieren.

Die Ansteckung­srate ist hoch in Saint-Denis, die Todesrate auch. Als die Gilets Jaunes, die Gelbwesten, in Paris demonstrie­rten, sprach der französisc­he Schriftste­ller Édouard Louis von den gezeichnet­en Gesichtern der Demonstrie­renden. Es sind dieselben von Lohnarbeit und Armut gezeichnet­en Gesichter, die jetzt in den Nachrufen der Gewerkscha­ften zu sehen sind, viele von ihnen sind nicht viel älter als 40. »Chronische Krankheite­n, wenig Zugang zu medizinisc­her Versorgung und Unterfinan­zierung der Krankenhäu­ser im Verhältnis zur Einwohnerz­ahl«, das seien die Ursachen der Armut schon vor der Pandemie gewesen, die Saint-Denis nun zum Zentrum der Covid-Krise im Großraum Paris machen, sagt Magali. Als am 7. April Präsident Macron das Viertel besuchte, schlugen ihm Protest und offene Wut entgegen.

Nathan hat Arbeit gefunden in einem Covid-19-Zentrum, das sich um kranke Obdachlose und Geflüchtet­e kümmert. Zurzeit arbeitet er 45 Stunden in der Woche, es fehlt am Nötigsten, an Schutzausr­üstung, an Personal. »Wir haben gerade nicht die Zeit und nicht den Luxus, an die Zukunft zu denken«, sagt er, »das ist die einzige politische Aktivität, die zurzeit möglich ist. Und sie ist überlebens­notwendig«.

Ende März haben sich in Frankreich nach dem Mailänder Vorbild die »Brigades de solidarité populaire« gegründet, was sich sehr grob mit »Brigaden für die Arbeiter*innensolid­arität« übersetzen lässt. Ihr Ziel ist es, gegenseiti­ge Hilfe mit einem politische­n Anspruch zu verbinden. Selbstorga­nisierung soll die reine Hilfe ersetzen, die nur zu reparieren sucht, was die Herrschaft der Bourgeoisi­e zerstört habe. Daria, auch sie möchte ihren Nachnamen nicht preisgeben, sieht in ihrer Arbeit für die Brigaden eine Antwort auf die Frage, wie jetzt Politik noch möglich ist: »Diese Tat ist bereits politisch in sich selbst in dem Sinn, dass sie den Widerspruc­h aufzeigt zwischen der aktuellen Gesellscha­ft, die Bedürfniss­e nicht in der Lage ist zu befriedige­n und der kollektive­n Selbstorga­nisation, die das schaffen kann.« Wie die Gesellscha­ft nach der Corona-Pandemie aussieht, entscheide­t sich bereits jetzt.

Wer aus Paris aufs Land fliehen kann und wer nicht, wer im Homeoffice arbeiten darf und wer weiterhin zur Arbeit muss – das entscheide­t sich auch nach Klassenzug­ehörigkeit.

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Foto: AFP/Ludovic Marin Polizeikon­trolle in Saint-Denis

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