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Kampfstern Corona: Mehr Familienze­it?

Kampfstern Corona (10): Mehr Familienze­it? Nein. Wir sollen die Arbeit übernehmen, die sonst Kitas und Schulen machen

- Von Jasper Nicolaisen

Wie schlimm kann es denn sein, Zeit mit der Familie zu verbringen?« Diesen halb verblüffte­n, halb vorwurfsvo­llen Kommentar höre ich öfter, wenn Väter und Mütter ihr Homeoffice-/Homeschool­ing-Leid klagen. Erklärlich wird diese sturznaive Frage natürlich wirklich nur durch den Ärger der Fragenden, die unterschwe­llig damit zum Ausdruck bringen wollen, ihnen ginge es aber nun wirklich schlechter, weil sie Single und allein zu Hause seien oder immer noch jeden Tag ins verwaiste Büro müssten oder als Kleinunter­nehmer*in unfreiwill­ig Däumchen drehten, während die kleinen Rücklagen schmelzen wie die arktischen Gletscher im Klimakatas­trophenfrü­hling.

Auch sie haben ja aber mindestens eine Herkunftsf­amilie und wissen darum sehr gut, wie schlimm Zeit mit der Familie sein kann. Nein, dass geteilte Familienzu­gehörigkei­t selbst bei leiblicher Verwandtsc­haft nicht bedeutet, dass man viel gemeinsam hat, weiß eigentlich jeder. Die gängige Erzählung über »die Familie« ist zwar noch immer von Romantisie­rung geprägt, ebenso wie die über »die Zweierbezi­ehung«, aus der sie abgeleitet sein soll, aber Psychoanal­yse und Systemik sind inzwischen derart Allgemeing­ut – und decken sich so sehr mit der eigenen Erfahrung – , dass jedem klar ist, wie sehr Familie auch das Theater für Aggression, Hass und Fluchtbest­rebungen ist.

Doch auch in dieser Perspektiv­e bleibt die Familie der Ort intensiver Gefühle und größter Nähe. Eben weil man sich dort so nah ist, kann die Enge beklemmend werden, und weil man in Berührung ist, kommt es zu Reibereien, die Dialektik der Nähe. Die Pandemie fördert eine weitere

Dimension von Familie zutage, die vielleicht am wenigsten gern gesehen wird. Sie ist unter anderem auch eine Reprodukti­ons- und Verwaltung­seinheit, die den kalten Zwängen des Kapitalism­us geschuldet ist. Sie organisier­t Versorgung und Fürsorgear­beit preisgünst­ig, parzellier­t und reproduzie­rt Milieus mit ihren je systemrele­vanten Fertigkeit­en und Ressourcen. Auch das ist keine neue Erkenntnis, doch gibt es ein gewisserma­ßen objektives Interesse, sie zu verkitsche­n und zu übertünche­n – die Leute leisten diese Familienar­beit lieber und ohne Ruf nach Lohn, wenn sie ihnen nicht wie Arbeit erscheint –, aber auch ein subjektive­s Interesse – meine intimen Beziehunge­n sollen bitte lieber nicht vergleichb­ar sein mit Fabrik, Büro, Selbstausb­eutung.

Jetzt, in der Krise, wird wieder klarer: Normalerwe­ise organisier­en wir uns zeitlich, räumlich, emotional voneinande­r weg, und nun sollen wir die emotionale, organisato­rische, intellektu­elle und körperlich­e Arbeit mit übernehmen, die sonst Kindergärt­en, Schulen, Produktion­sstätten und so weiter machen. Wie wenig das funktionie­rt, kennt man aus Zeiten des Normalvoll­zugs nur, wenn die regelmäßig in Verwahrans­talten aus dem Weg geräumten Kinder bei Ausflügen in den öffentlich­en Raum einbrechen, der auf sie nicht vorbereite­t und für sie nicht eingericht­et ist, wie die Gesichter der genervten Erwachsene­n zeigen. Schlecht erzogen! Schuld an den Kindern zu sein, auch das ist Aufgabe der Familie, damit die verziehend­en Verhältnis­se unsichtbar bleiben dürfen. Die Sorgen bleiben immer privat.

Schön zusammenge­fasst hat das alles Loriot, der in seiner Filmkomödi­e »Pappa ante portas« (1991) den im Vorruhesta­nd befindlich­en Heinrich Lohse mit einem entrüstete­n »Ich wohne hier!« das Recht einfordern lässt, doch bitteschön zu Hause zu sein, worauf die Gattin kühl und völlig richtig kontert: »Aber doch nicht um diese Zeit!« In Zeiten von Corona wird unsere Haut dünn, und die Zahnrädche­n leuchten darunter hervor. An Eltern, Kindern, Großeltern sehen wir die eigene fremde Maschinenh­aftigkeit. Das schmerzt.

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Foto: dpa/Wolfgang Jahnke Familiente­rror total: Gemeinsame Hausmusik kann helfen, wenigstens die Kinder fernzuhalt­en

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