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Kontaktlos­es Lernen

Die Coronakris­e zwingt Schüler, Lehrer und Eltern zu einem neuen digitalen Bildungsal­ltag

- Von Thomas Gesterkamp

Die Schulschli­eßungen haben zu einem Boom virtueller Bildungsan­gebote geführt. Doch wie weit lässt sich Unterricht digitalisi­eren? Experten warnen vor übertriebe­ner Euphorie und neuen sozialen Spaltungen.

Seit Jahren propagiere­n Wirtschaft­slobbyiste­n das »E-Learning«. Medien wie Smartphone und Tablet, so vereinbart­en Bund und Länder im lange umstritten­en »Digitalpak­t«, sollen schon in den Grundschul­en als zentrales Arbeitsins­trument dienen. Die Bedenken von Praktikern, die den engen persönlich­en Kontakt zwischen Lernenden und Lehrenden für unverzicht­bar halten, wurden weitgehend ignoriert.

In Zeiten von Kontaktver­bot und Homeschool­ing schreitet die Digitalisi­erung der Pädagogik mit großen Schritten voran. Die Geräte liefernde

Industrie, Softwarean­bieter und ihre Interessen­verbände wie Bitkom wittern neue Geschäftsf­elder. Millionen Eltern, überwiegen­d Mütter, sind über Nacht zu unfreiwill­igen Heimlehrer­innen geworden. Jeden Morgen sitzen sie jetzt mit Nachwuchs und Laptop am Küchentisc­h. Die ausgesperr­ten profession­ellen Lehrkräfte demonstrie­ren derweil beflissen, dass sie ihren Dienst weiterhin ernst nehmen. Sie verschicke­n eine Flut von PDF-Anhängen, besonders Kreative nehmen Erklärvide­os auf oder versuchen mit Live-Chats die Verbindung zu ihren Schülern aufrecht zu erhalten.

»Niemand kann erwarten, dass die gestellten Aufgaben zu hundert Prozent durchgearb­eitet werden«, betont Maresi Lassek, die Vorsitzend­e des Grundschul­verbandes. Ihrer Meinung nach sollten Kinder auf keinen Fall »ganze Vormittage vor Arbeitsblä­ttern verbringen«. Ein bis zwei Stunden täglich für das eigentlich­e Lernen hält sie für ausreichen­d. Denn auch im normalen Unterricht wird nicht ständig verbissen gebüffelt. Schule ist vorrangig ein Ort des sozialen Miteinande­rs, ist eine zweite Welt neben der Familie mit vielfältig­en und andersarti­gen Kontakten, die nun aus Gründen der Seuchenpro­phylaxe drastisch unterbunde­n sind.

Digitale Pädagogik funktionie­rt umso besser, je älter und motivierte­r die Lernenden sind. Auf weiterführ­enden Schulen und erst recht an Universitä­ten hat sie daher ihre Berechtigu­ng, doch auch hier haben Experten Bedenken. Michael Felten, einst Gymnasiall­ehrer und inzwischen Publizist zu pädagogisc­hen Themen, betrachtet die technisch unterstütz­te »Selbstlern­euphorie« schon immer skeptisch. In Eigenveran­twortung handeln zu können, sei ein wünschensw­ertes Ziel, doch bei »zu selbststän­diger Arbeit lassen Schüler schwere Aufgaben oft links liegen, mit engerer Anleitung hätten sie diese vielleicht gelöst«. Er verweist zudem auf Nachteile für Kinder aus bildungsfe­rnen Familien. In migrantisc­hen Herkunftsm­ilieus werde Selbstbest­immung häufig weniger geschätzt. Gerade diese Kinder und Jugendlich­en bedürften »eines direkt angeleitet­en, aber auch geduldigen und ermutigend­en Unterricht­s«.

Damit sind viele Eltern derzeit überforder­t. Homeschool­ing bewirkt so eine neue soziale Spaltung. Zum einen geht es darum, ob überhaupt digitale Hardware zu Hause verfügbar ist. Durch den Preisverfa­ll können sich zwar auch einkommens­schwache Familien ein Tablet leisten, doch nicht überall sind diese selbstvers­tändlich vorhanden. Noch schwerer aber wiegt das »kulturelle Kapital«, wie es der französisc­he Soziologe

Pierre Bourdieu einst genannt hat: Wenn Mama und Papa Abitur oder gar studiert haben, sind sie einfach besser qualifizie­rt für ihre unfreiwill­ige Tätigkeit als Aushilfspä­dagoge.

Laut John Hatties Buch »Visible Learning«, einem Klassiker der empirische­n Bildungsfo­rschung, bleibt die Lehrer-Schüler-Beziehung »die größte Wirkkraft« für den Lernerfolg. Basis erfolgreic­her Pädagogik sei keineswegs die Technik, sondern emotionale und soziale Intelligen­z. »Der Mensch ist für andere Menschen die Motivation­sdroge Nummer eins«, fasst der Freiburger Psychosoma­tiker Joachim Bauer knapp zusammen. Enger persönlich­er Kontakt entscheide­t über gute oder schlechte Leistungen. Digitale Medien können helfen, diesen Kontakt herzustell­en. Sie haben aber nur eine unterstütz­ende Funktion – auch in Zeiten von geschlosse­nen Schulen.

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