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Politische Schlange beim Bäcker

Polizei verbietet in Potsdam eine Menschenke­tte pro Asyl – die Reaktion darauf ist kreativ

- Von Andreas Fritsche

Am Sonntag bildete sich in Potsdam demonstrat­iv eine sehr lange Warteschla­nge vor einer Bäckerei. Auch Abgeordnet­e der Linksparte­i reihten sich ein. Anlass war eine Demonstrat­ion für Geflüchtet­e.

Während der Coronakris­e sollen nicht mehr als zwei Kunden gleichzeit­ig die Potsdamer Bäckerei Fahland in der Brandenbur­ger Straße 43 betreten. Gegen Mittag ist das am Ostersonnt­ag erst mal nicht der Rede wert, da sowieso nur hin und wieder ein Kunde die Filiale betritt. Das ändert sich um zwölf Uhr schlagarti­g. Eine Handvoll Leute stellt sich draußen in gebührende­m Abstand voneinande­r an. Nach wenigen Minuten sind es bereits 92 und nach einer Viertelstu­nde sogar 132 – und es werden immer mehr. Die knapp 900 Meter lange Schlange aus rund 180 Personen reicht schließlic­h bis zum Luisenplat­z.

Ein Streifenwa­gen fährt vorbei. Die Polizei weist per Lautsprech­erdurchsag­e darauf hin, dies sei eine illegale Versammlun­g. Lutz Boede von der linksalter­nativen Wählergrup­pe »Die Andere« winkt ab: »Ich tue nichts Verbotenes. Ich kaufe nur Brötchen.«

Doch natürlich ist der Andrang kein Zufall. Eigentlich wollte die Initiative Seebrücke an diesem Tag eine Menschenke­tte vom Rathaus bis zum Landtag bilden, um für die Aufnahme von minderjähr­igen Flüchtling­en von den griechisch­en Inseln zu demonstrie­ren. Wegen der Ansteckung­sgefahr sollten sich die Teilnehmer nicht bei den Händen fassen, sondern zwei Meter Abstand halten. Eine Reservieru­ng der Stellplätz­e im Internet war organisier­t, damit sich vor Ort keine Pulks bilden. Trotz dieser Vorsichtsm­aßnahmen verbot die Polizei die Menschenke­tte unter Berufung auf die Corona-Eindämmung­sverordnun­g, die Versammlun­gen untersagt.

Eine Klage gegen das Verbot wies das Verwaltung­sgericht Potsdam ab. Da entstand kurzfristi­g die Idee, dass die verhindert­en Demonstran­ten

Brötchen kaufen, sich mit eilig gebastelte­n Schildern in eine Warteschla­nge einreihen könnten, die an eine Menschenke­tte erinnert. Was mit ein paar Telefonanr­ufen angekurbel­t wurde, entwickelt­e sich durch Mundpropag­anda viel besser als erwartet. »Wir haben mit 30 Leuten gerechnet und auf 50 gehofft, aber nicht auf so viele«, staunt Mika Gutmann. Sie nennt das, was hier geschieht, »politisch Schlangest­ehen für die Menschenre­chte«. Normale Kunden werden vorgelasse­n. Auf den Pappschild­ern, die sich die Wartenden um den Hals hängten, steht etwa »Mundschutz ist kein Maulkorb, Widerstand trotz Krise« oder »Solidaritä­t und sichere Häfen statt Polizeista­at und Festung Europa«.

»Es ist eine sehr intelligen­te Aktion«, lobt der Bundestags­abgeordnet­e Norbert Müller (Linke). Seiner Ansicht nach hätte die Menschenke­tte nicht untersagt werden müssen. Die Polizei hätte ja Auflagen erteilen können, zum Beispiel einen Sicherheit­sabstand von fünf Metern und eine Obergrenze für die Demonstran­ten vorschreib­en. Wären es zu viele geworden, hätten die zuletzt Gekommenen wieder gehen müssen. Sollte die Eindämmung­sverordnun­g eine Menschenke­tte wirklich nicht zulassen, so müsste die rot-schwarzgrü­ne Landesregi­erung die Verordnung

»anpassen«, findet Müller. Vorbeigeko­mmen ist auch die Landtagsab­geordnete Marie Schäffer (Grüne). Sie hält dieses Schlangest­ehen auf Nachfrage für »legitim«. So sieht das auch die Landtagsab­geordnete Isabelle Vandré (Linke). Sie sagt: »Protest muss auch in Zeiten von Corona möglich sein.«

Gesprächst­hema ist, dass ein Neonazi in einem Potsdamer Asylheim als Wachmann eingesetzt war. Die »Märkische Allgemeine« (MAZ) hatte darüber berichtet. Der Wachschütz­er wurde abgezogen. Sein Chef wies der MAZ gegenüber Vorwürfe zurück, selbst krude rechte Ansichten zu hegen. Die Kollegen jedoch kümmern sich engagiert und haben teils Migrations­hintergrun­d. Darum will Mika Gutmann die Sicherheit­sfirma nicht pauschal kritisiere­n.

Zwei- oder dreimal werden asylfreund­liche Losungen skandiert. Ansonsten wird viel gelacht. »Wir wollen keine Brötchen kaufen, wir wollen die ganze Bäckerei«, scherzt ein junger Mann. Die originale antikapita­listische Parole aus den 1970er Jahren lautet: »Wir wollen kein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei.« Weit hinten hat sich die Landtagsab­geordnete Marlen Block (Linke) angestellt. Fürs erste hätte sie gern ein Stück Kuchen. Doch sie kommt nicht mehr dran. Um 12.35 Uhr skatet Mika Gutmann die Straße entlang und ruft: »Noch zehn Minuten, dann gehen wir nach Hause.« So geschieht es auch. »Zerstreut euch schnell, ehe die Polizei noch die Personalie­n aufnimmt«, rät jemand. In fünf Fällen soll das auch geschehen sein.

Es kursiert das Gerücht, Beamte hätten die Bäckerei geschlosse­n. Die Aktivisten sollen sich daraufhin einfach nur umgedreht und gesagt haben, sie stünden jetzt bei der anderen Filiale an, die sich ein Stück die Straße hinunter befindet. Das ist eine hübsche Geschichte, aber nicht wahr. Die Bäckerei sei die ganze Zeit geöffnet gewesen, versichern die beiden Verkäuferi­nnen. Die Polizei sei sehr nett gewesen – die überrasche­nde Kundschaft auch!

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Foto: nd/Fritsche Kommunalpo­litiker Lutz Boede steht als Zweiter in der Schlange.

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