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Radwege im Rekordtemp­o

Nicht nur Friedrichs­hain-Kreuzberg soll temporäre Corona-Radspuren erhalten

- Von Nicolas Šustr

Der coronabedi­ngt reduzierte Autoverkeh­r in Berlin macht Platz für neue Fahrradinf­rastruktur, zumindest in Friedrichs­hain-Kreuzberg. Auch in anderen Bezirken wird der Ruf danach lauter.

Friedrichs­hain-Kreuzberg legt vor. Innerhalb von zwei Wochen hat der Bezirk mehrere Kilometer temporäre Radwege durch die Umwidmung von Autospuren geschaffen. Etwa auf der Petersburg­er Straße, wo bisher ein schmaler Streifen auf dem Bürgerstei­g, der mehr an einen Feldweg erinnerte, die einzige Fahrradinf­rastruktur war. Nun steht den Radlern hier eine ausreichen­d breite und sichere Radspur zur Verfügung.

»Wenn der öffentlich­e Personenna­hverkehr wegen des Infektions­schutzes schwierig ist, müssen wir den Beschäftig­ten in systemrele­vanten Berufen eine Alternativ­e bieten«, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Friedrichs­hain-Kreuzberge­r Straßen- und Grünfläche­namts. Immerhin verfügten 43 Prozent der Berliner Haushalte über kein Auto. Ziel sei es, »die aktuell vermehrt stattfinde­nde Nutzung des Fahrrads unter besserer Wahrung der Sicherheit­sabstände gemäß der Covid-19-Eindämmung­sverordnun­g zu ermögliche­n«, so der Bezirk. Das spürbar gesunkene Autoverkeh­rsaufkomme­n lasse die auf diese Pandemie befristete Maßnahme zu.

Carsten Schatz, Abgeordnet­enhausmitg­lied und Bezirksvor­sitzender der Linke Treptow-Köpenick, fordert die Umwidmung von Autospuren zu Radwegen auch auf der Baumschule­nstraße, die Freigabe der gesperrten Spur auf der Langen Brücke in Köpenick sowie eine breite Fahrrad-Abstellflä­che an der Kreuzung

Kiefholzst­raße / Elsenstraß­e. »Die ersten Sofortmaßn­ahmen in Kreuzberg-Friedrichs­hain sind zu begrüßen, dürfen sich allerdings nicht allein auf die Innenstadt­bezirke erstrecken«, so Schatz.

Linke-Politiker aus Charlotten­burg-Wilmersdor­f und TempelhofS­chöneberg fordern Corona-Radspuren auch in ihren Bezirken. GrünenAbge­ordnetenha­usmitglied Stefan Ziller fordert dies für die Allee der Kosmonaute­n in Marzahn-Hellersdor­f. »Darüber hinaus sollte das Bezirksamt prüfen, welche weiteren Radwege in Planung in dem beschleuni­gten Verfahren umgesetzt werden können«, sagt Ziller.

»Wofür wir sonst drei Jahre brauchen, das machen wir nun in drei Tagen«, sagt Felix Weisbrich sichtlich stolz. Um dann einzuräume­n, dass man doch vier bis sechs Werktage brauche. So oder so Überschall­geschwindi­gkeit, nicht nur für Berlin. Essen, Stuttgart und weitere deutsche Städte hätten sich schon gemeldet, um die Erfahrunge­n des Bezirks zu nutzen. Die Corona-bedingten Radstreife­n waren allerdings keine Berliner Idee, zuvor haben das schon die kolumbiani­sche Hauptstadt Bogotá und die US-Metropole New York gemacht – in deutlich größerem Umfang.

Dem Bündnis »Berliner Straßen für alle« geht das nicht weit genug. »Um den Berlinerin­nen und Berlinern zu ermögliche­n, möglichst ansteckung­sfrei ihre Wege zurückzule­gen, benötigt Berlin für die Zeit der Coronakris­e ein dichtes Netz an provisoris­cher, geschützte­r Fahrradinf­rastruktur auf den Fahrbahnen der Hauptstraß­en«, heißt es in einem offenen Brief an Senat und Bezirke. Die größere Sicherheit ermögliche auch ungeübten Radlern den Umstieg. Druck wird über eine Onlinepeti­tion gemacht.

Nachdem der infrastruk­turpolitis­che Sprecher der FDP-Fraktion im Abgeordnet­enhaus, Henner Schmidt, die temporären Radspuren zunächst als Versuch bezeichnet hatte, »die Krise für die eigenen Interessen zu nutzen und für die Zeit nach der ›Coronakris­e‹ einseitig Fakten zu schaffen«, gehen ihm die Maßnahmen nun nicht weit genug. »Allein durch Markierung­en abgetrennt­e Radfahrstr­eifen sind nach den Erfahrunge­n der letzten Jahre eine unsichere und gefährlich­e Lösung«, so Schmidt. Radwege sollten deshalb in der Regel »baulich getrennt ausgeführt werden«.

Die Senatsverk­ehrsverwal­tung führt derweil Gespräche mit weiteren Bezirken. Ein Koalitions­politiker dämpft jedoch die Hoffnungen. »Was ich gehört habe, wird das nur klappen, wo es bereits recht konkrete Planungen für neue Radspuren gab. Diese Maßnahmen werden einfach provisoris­ch vorgezogen«, sagt er dem »nd«. Auch Verkehrsse­natorin Regine Günther (Grüne) sagt, dass die Radspuren vor allem dort markiert würden, wo sie bereits geplant waren.

Felix Weisbrich möchte die einmal vorgenomme­ne Umverteilu­ng des Straßenrau­ms nur sehr ungern wieder rückgängig machen. »Wir wären ja mit dem Klammerbeu­tel gepudert, wenn wir das dann wieder zurückbaue­n müssten«, sagt er. Auch wisse niemand, wie lange die Pandemie noch dauern werde.

Jens Wieseke vom Berliner Fahrgastve­rband IGEB kritisiert, dass das schnelle Tempo nicht auch bei der Ausweisung von Busspuren an den Tag gelegt wird. »Nutzer öffentlich­er Verkehrsmi­ttel fahren derzeit nicht zum Spaß«, sagt er. U-Bahnen seien weiterhin überfüllt. Der ÖPNV komme bei der Senatsverk­ehrsverwal­tung »überhaupt nicht mehr vor«.

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Foto: nd/Nicolas Šustr Arbeitsbeg­inn auf der Petersburg­er Straße in Friedrichs­hain

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